Auf einmal wird es ruhig. Friedlich liegt die Straße vor einem und man lässt das quirlige, laute und lebendige Jerusalem einfach hinter sich. Im Stadtteil Abu Tor stehen schöne Einfamilienhäuser im gleißenden Licht der Wintersonne und dort, wo sich der Blick über das Tal öffnet, hat man einen atemberaubenden Blick über die Altstadt von Jerusalem bis hinein in die Wüste. Irgendwo hier müssen die Römer ihren Belagerungswall gehabt haben, als sie Jerusalem angriffen und den Tempel zerstörten. Genau hier, genau auf der grünen Linie, wollen wir zu einer einmaligen Einrichtung, die junge Deutsche gemeinsam mit ihren Partnern aus Israel und mit Palästinensern in mühsamer und ausdauernder Arbeit aufgebaut haben.
Das Haus zeigt die typische, mit Jerusalemer Stein verkleidete Fassade, ein unspektakulärer Bau, wäre da nicht seine außergewöhnliche Nutzung. Die Politikwissenschaftlerin, Repräsentantin der Jugendorganisation der Sozialdemokraten (Jusos) in Jerusalem und Friedensfachkraft Heike Kratt leitet dort seit Januar dieses Jahres als Koordinatorin das Willy-Brandt-Zentrum für Begegnung und Verständigung. Das Willy-Brandt-Zentrum ist ein einmaliges Projekt im Brennpunkt des Konfliktes zwischen Israel und Palästina. Es gehört zu den wenigen, aber dafür umso wichtigeren Projekten in Israel, die versuchen, den Gesprächsfaden zwischen den verfeindeten Parteien trotz der immensen Schwierigkeiten und des täglichen Terrors nicht abreißen zu lassen. Auf Initiative der Jusos gegründet, reicht das Projekt bis in das Jahr 1996 zurück und wurde mit entschiedener Ausdauer zur Eröffnung im Oktober 2003 gebracht. Politische Partnerorganisationen der Jusos in Israel und den palästinensischen Gebieten tragen gemeinsam mit den Deutschen diese Initiative, wobei die finanzielle Hauptlast auf deutscher Seite liegt. Es reicht einfach nicht, so das Credo des zehnköpfigen trilateralen Teams im Zentrum, dass die große Politik miteinander spricht - so sie dies überhaupt tut - und über Krieg und Frieden entscheidet. Frieden entsteht nur dann und dort, wo die Menschen sich kennen und wertschätzen lernen können. Wo aus Feinden zwar keine Freunde, aber zu respektierende Andere werden, die das gleiche Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit haben, wie man selbst. Die gleiche politische, also sozialdemokratische Ausrichtung, auch wenn sie sich im gegnerischen Lager wieder findet, soll das verbindende Element sein, auf dem der Dialog belebt werden kann. Dabei hat gerade das Politische durch die Erfahrungen einer ganzen Generation auf beiden Seiten des Konfliktes fast jedes positive Ansehen verloren. Junge Israelis und Palästinenser sind gleich tief enttäuscht von einer Politik, die die beiden Seiten immer weiter in den Teufelskreis aus Terroranschlägen, Vergeltungsmaßnahmen, wirtschaftlichem Niedergang und persönlichen Tragödien hineingetrieben hat.
Heike Kratt, die jetzt in Jerusalem wohnt, hat sich einiges vorgenommen für ihren zweijährigen Einsatz im Willy-Brandt-Zentrum. Sie will, sagt sie, die aktuellen, vorsichtig optimistisch stimmenden Veränderungen auf höchster politischer Ebene nutzen, um in diesem Jahr bilaterale Treffen und Seminare zwischen Palästinensern und Israelis im Zentrum stattfinden zu lassen. Die bisherige Situation ließ das meist nicht zu. Die Palästinenser konnten wegen der Reisebeschränkungen nicht nach Jerusalem kommen, und auch die gegenseitige Bereitschaft von Israelis und Palästinensern, gemeinsam an Projekten zu arbeiten, war angesichts der - wie man hier sagt - "Situation" äußerst eingeschränkt. Viele Projekte, die während des Frie-densprozesses in den 90er-Jahren entstanden waren, haben irgendwann entmutigt aufgegeben oder muss-ten, ohne weitere Förder- und Finanzmittel, das Handtuch werfen. Nur wenige Initiativen haben die zweite Intifada und den Terror überlebt. Das Willy-Brandt-Zentrum ist eine davon.
Das liegt vielleicht auch daran, dass man hier neue Wege beschreitet bei dem Versuch, der zerstörerischen Gewalt zu entkommen. Man lässt sich beispielsweise auf die gesellschaftliche Trennung ein und richtet seine Angebote entsprechend aus, um von dort aus die Grundlagen für Gemeinsamkeiten bei den beiden Bevölkerungsgruppen zu erarbeiten. Adeeb Salim, der Entwicklungshilfe studierte, hat sein Leadership-Training für junge Palästinenser mit acht jungen Frauen und Männern am Zentrum durchgeführt. Sein Ansatz, den Fokus des Projektes auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und der eigenen Gesellschaft zu legen, stellte für viele der Teilnehmenden ein völlig neues Erlebnis dar. Damit konnte die verflixte Fokussierung auf den "Anderen", den "Gegner" überwunden und, wie die Teilnehmenden selbst sagen, eigene Kreativität angeregt und damit auch zu einem aktiven und kritischen Engagement in der eigenen Gesellschaft ermutigt werden. Yair Bortinger, Student der Politik-wissenschaft in Tel Aviv, hat den gleichen Workshop für die Israelis geleitet. Neben der Vermittlung von Kommunikations- und Redefähigkeiten lag ein Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Geschichtsnarrativen der palästinensischen und israelischen Seite. Hier konnte Yair an eines der langfristigen Projekte anknüpfen, die der Gründungskoordinator Matthias Reiz initiiert hatte. In getrennten Gruppen haben Israelis und Palästinenser Fotos ausgesucht, die ihr Geschichtsverständnis ausdrücken. Die Bilderauswahl hätte unterschiedlicher nicht ausfallen können, und dennoch gibt es erstaunliche Parallelen. Die israelische Auswahl beinhaltet immer auch Bilder aus der Zeit des Dritten Reiches in Deutschland, um dann über die Staatsgründung und die Nahost Kriege, den Friedensprozess zur Intifada zu gelangen. Die palästinensische Auswahl umfasst beispielsweise, die Flüchtlingslager, die Situation in den "Gebieten" ebenso wie Bilder von den Grenzübergängen, aber eben auch Bilder von Friedensbemühungen, zum Beispiel Clinton mit Rabin und Arafat vor dem Weißen Haus. Solche Seminare sollen jungen, politisch engagierten Menschen Wege für ein Miteinander im Nahen Osten zeigen.
Die Arbeit des Willy-Brandt-Zentrums hat noch eine weitere, wichtige Dimension: Hier engagieren sich junge Deutsche, um in der Zusammenarbeit mit beiden Konfliktparteien ihren Beitrag zum Friedensprozess leisten zu können. Dabei, so die Erfahrung von Heike Kratt, werde sie gerade als Deutsche von beiden Seiten akzeptiert. In den Gesprächen mit den Israelis spielen die deutsche Geschichte und der Holocaust selbstverständlich eine wichtige Rolle. Doch in Israel weiß man sehr gut, welchen bedeutenden Beitrag Deutschland als Freund und Partner Israels leistet. Umgekehrt wird den Deutschen des Willy-Brandt-Zentrums auch von palästinensischer Seite Vertrauen entgegengebracht. Deutschland gilt als starker und verlässlicher Partner beim Aufbau eines palästinensischen Staates, der diesen Namen verdient. Mit diesem Vertrauensvorschuss und dem Ruf als zuverlässiger Partner auf beiden Seiten haben die jungen Deutschen im Zentrum eine einmalige Möglichkeit, die Gegner in konkreten Projekten zum Dialog miteinander zu bringen.
Trotz aller Schwierigkeiten gab es auch ein trilaterales Projekt, eigentlich eine kleine Sensati-on in der derzeitigen Situation: Unter der Leitung der Pädagogin Margaret Kirri und der US Künstlerin Jeanette Auman hat eine Gruppe von deutschen, israelischen und palästinensischen Frauen gemeinsam ein Mosaikbild erstellt. So unspektakulär dies klingen mag, für alle Beteiligten war das gemeinsame künstlerische Arbeiten und die Möglichkeit, das fertige Mosaik dann rahmen und ausstellen zu lassen, ein ganz neues Erlebnis. Alle erlebten damit - oftmals zum ersten Mal in ihrem Leben - jemanden aus dem gegnerischen Lager als Mitarbeiterin an einem gemeinsamen Projekt. Und es scheint bezeichnend, dass es ein Frauenprojekt ist, das diesen Brückenschlag geschafft hat.
Solche Erfolge sind nicht zuletzt der Atmosphäre zu verdanken, die das Zentrum prägt: Weder Friedenspathos noch depressiver Fatalismus, sondern ein umtriebiges Projektmanagement wirbelt durch die Treppen, Räume und den umlaufenden Balkon des Zentrums. Realismus, Augenmaß und die Kunst der kleinen Schritte prägen das Haus. Schon die Eröffnungsfeier im Oktober 2003 verlangte umsichtiges Krisenmanagement. Wieder einmal hatte es neue Anschläge gegeben, wieder hatte die israelische Regierung mit den entsprechenden Vergeltungsschlägen und der Androhung neuer Gewalt reagiert. Folgerichtig weigerten sich Israelis und Palästinenser, gemeinsam zur feierlichen Eröffnung zu kommen. Die Deutschen organi-sierten zwei getrennte Eröffnungen. Am Vormittag kamen die Palästinenser, was schon aufgrund der Reisebeschränkungen und -unsicherheiten geboten und der einzige praktikable Weg gewesen war, und am frühen Abend dann die Israelis. So konnte die Eröffnungsfeier an einem Tag stattfinden, mit allen Partnern. Die deutschen Ehrengäste, darunter auch Mitglieder des deutschen Bundestages und der damalige Gründungskoordinator Matthias Reiz, erlebten damit hautnah, was es bedeutet, Verständigung im Nahen Osten herstellen zu wollen. Kreativität und der Mut zu unkonventionellen Methoden (alle Deutschen mussten ihre Reden zweimal halten), sind die Kraft, die solche zivilgesellschaftlichen Engagements antreibt.
Soll dieses Engagement langfristig und nachhaltig Erfolg haben, so erfordert dies jedoch Kontinuität. Junge Palästinenser brauchen einen Platz, an dem sie sich treffen, ihre Gedanken austauschen und einfach auch mal einen Tee trinken können. Die Idee eines Jugendclubs im Zentrum könnte all diese Bedürfnisse Wirklichkeit werden lassen.
Noch fehlen die nötigen Gelder, um ein entsprechendes Angebot einrichten zu können. Vielleicht, so Heike Kratt, müsse man mittelfristig eher dezentral arbeiten und die Idee eines offenen Hauses in Jerusalem für alle aufgeben. Die Finanzierung ist nur für die nächsten zwei Jahre gesichert, zu wenig Zeit für die Schaffung von Frieden in einem Land, das seit Jahrtausenden mit Krieg, Terror und Gewalt überzogen wird.