Morgens und mittags kommen die Mitglieder zum Essen zusammen, abends bleiben die Familien zu Hause, seit der Speisesaal "privatisiert" wurde. Früher stand jedem alles zur Verfügung. Heute werden die Mahlzeiten vom monatlichen Budget, dem Taschengeld für die Mitglieder abgerechnet, das entsprechend aufgestockt wurde. Rot-weiß karierte Tischtücher schmücken die spartanischen Esstische, die in jedem Kibbuz gleich aussehen: die Platte aus Press-Span und Eisenbeine. Passende Stühle dazu.
Neben der Eingangshalle gibt es mehrere Waschbecken für die Leute, die direkt vom Feld oder aus dem Kuhstall zum Essen kommen. Vis-à-vis der Schrank mit vielleicht 150 kleinen Briefkästen. Am schwarzen Brett hängt der Aufruf des Speisesaalteams: "Wir bitten alle Mitglieder, Besteck und Teller zurück-zubringen." Ein hemdsärmeliger älterer Herr schlurft an dem Plakat der Friedensbewegung vorbei: "Israel zieht aus Gaza ab", Demo nächsten Samstag.
Die Gründer der Kibbuzim waren Zionisten und Sozialisten, die aus Überzeugung nach Palästina gekommen waren. Ab Mitte der 30er-Jahre schlossen sich ihnen die Flüchtlinge aus Europa, vor allem aus osteuropäischen Ländern an und begannen die Arbeit nicht zuletzt mit Blick auf die verlorene Heimat mit ähnlichem Idealismus. Es galt, den Staat aufzubauen und zu verteidigen. Noch vor 15 oder 20 Jahren wurden aus den Landwirtschaftskooperativen die Elitesoldaten rekrutiert. Viele derer, die heute die Politik Israels gestalten, wuchsen in den Kinderhäusern auf, wo das "Wir" stets schwerer wog als das "Ich". Eine individuelle Karriere, Eigenheim und Pkw waren den Städtern vorbehalten. Die Kibbuzniks verfolgten höhere Werte. Doch die Crème de la Crème der israelischen Gesellschaft gerät zunehmend ins Abseits.
"Die Popularität von einst hat eine völlige Kehrtwende gemacht", meint Kibbuzsekretär Amnon Selinger. "Heute ist man unser überdrüssig." Das gemeinsame Ziel, die "Mission" sei erfüllt. Den Jüngeren ist die Unabhängigkeit und die Frage, ob es sich individuell auszahlt, wichtiger. Amnon wurde vor 61 Jahren im Kibbuz geboren und blieb - nicht zuletzt aus ideologischen Gründen. Ohne jede Bitterkeit nimmt er die neue Realität wahr. "Ich bin froh, dass ich noch Teil dieses Projekts sein konnte", meint er. Als sich sein Sohn vor ein paar Jahren um Mitgliedschaft in Kfar Menachem bewarb, riet ihm Selinger indes, zunächst die persönlichen Vor- und Nachteile genauer abzuwägen.
Für Lilo Savir hat sich diese Frage nie gestellt. "Ich bin hergekommen, weil ich mich fremd fühlte", sagt sie. Im April 1939 reiste die damals 18-jährige Berlinerin nach Palästina. Ein purer Zufall rettete ihr das Leben. In einem Kinderdorf wurden Erzieherinnen gesucht. Lilo hatte gerade eine Ausbildung absolviert. Ihre gesamte Familie blieb zurück und kam im Holocaust um. Das junge Mädchen war plötzlich allein und noch dazu in einem fremden Land. "Ich glaube, dass es den meisten von uns so ging: Wir hofften, dass uns das Zusammensein retten würde."
Über Umwege erreichte Lilo im Frühjahr 1943, zusammen mit ihrer so genannten Kerngruppe, jungen deutschen Immigranten des "Schomer Hazair" den Kibbuz Kfar Menachem, etwa 35 Kilometer südöstlich von Tel Aviv, wo sie sich mit zwei anderen Kerngruppen, einer aus Polen und einer aus Litauen zusammenschlossen. Lilo erzählt auf der Terrasse des kleinen Altenheims, in dem sie seit ein paar Jahren lebt, und zeigt auf die im Tal vor ihr liegenden "Kuhställe", auf Eisenstangen montierte Asbestdächer. "Das kam alles viel später. Als wir anfingen, gab es nur Steine und Unkraut hier."
Zusammen mit ihrem Mann, den sie noch aus Berlin kannte, verbrachte sie die ersten Jahre in einer spartanischen Baracke, "in die gerade einmal unsere zwei Feldbetten passten", erinnert sie sich. Alle ihre vier Kinder wuchsen in den Kinderhäusern auf. Dort blieben sie auch über Nacht. Täglich drei bis vier Stunden und die Wochenenden, mehr Zeit stand den Eltern für ihre Kinder nicht zu. Kein Strom, kein fließendes Wasser, "in der ersten Zeit hatten wir noch nicht einmal eigene Kleidung".
Erst nach Jahren wurden Hemden, Hosen und Unterwäsche, die die Mitglieder ab sofort ihr eigen nennen konnten, mit einer Kennziffer markiert, damit sie in der Gemeinschaftswäscherei nicht verloren gingen. Wer anderes als die "Arbeitsuniform" brauchte - blaue oder grüne Leinenhosen und -hemden - konnte sich in der Kibbuz-Schneiderei für jede Gelegenheit einkleiden. "Inzwischen haben wir ein Kleidungsbudget und können auch in der Stadt einkaufen", erklärt Lilo ohne jede Bewertung eine der Veränderungen, die der Kibbuz seit seiner Gründung erlebte.
Für die über 80-Jährige, aus einem gutbürgerlichen deutsch-jüdischen Haus stammende Frau ist der Sozialismus zum Alltag, zur Norm, geworden. Die monatliche Rente, die Lilo heute aus Deutschland erhält, "sehr viel Geld", wie sie selbst sagt, fließt komplett in die Gemeinschaftskasse.
"Der Kibbuz ist der einzige Versuch, in einer modernen Zeit ohne jeden Zwang, ohne Unterdrückung, ohne Blutvergießen und ohne Gehirnwäsche eine partnerschaftlich-gleichberechtigte Gesellschaft zu gründen", schrieb einst der israelische Schriftsteller Amos Oz. Dieses Prinzip trotz der veränderten Realität und der "erfüllten Mission" soweit wie möglich beizubehalten, ist das Anliegen der Kibbuzverwaltung, wenn sie über neue Modelle nachdenkt. Inzwischen wird den Mitgliedern kein einheitliches Taschengeld mehr ausgezahlt, wie es Jahrzehnte lang üblich war, sondern ein leicht gestaffeltes Budget, das sich nach dem realen Einkommen richtet. In diesem Jahr soll das Gehalt der Mitglieder nahezu komplett privatisiert werden. Dann würde Lilo ihre Rente für sich behalten dürfen.
Bereits vor zwei Jahren wurden die Häuser offiziell auf die Namen ihrer Bewohner überschrieben. "Wir werden auf kurz oder lang so werden wie alle anderen auch", glaubt Kibbuzsekretär Selinger ohne Illusion. Trotzdem soll es auch nach der bis 2006 geplanten kompletten Privatisierung der Einkommen ein "Sicherheitsnetz" geben, mit dem den sozial schwächer Gestellten ein Mindesteinkommen garantiert wird. Erziehung, Gesundheitsversicherung und Renten sind zudem vorläufig von der Privatisierung ausgenommen.
Für die meisten Kibbuzim geben finanzielle Überlegungen den Ausschlag für die Reformen. Das Prinzip der Gemeinschaftskasse hat in den vergangenen Jahren immer mehr Kooperativen in die Pleite getrieben. Kfar Menachem ist hingegen finanziell saniert. Eine große Metallverarbeitungsanlage, ein Steinbruch, Milchproduktion und Hühnerzucht werfen so gute Profite ab, dass auch der hohe Anteil von Rentnern den Kibbuz finanziell nicht bedroht.
"Alle unsere Freunde haben den Kibbuz verlassen", meint Billi Harel, eine junge deutsche Christin, die vor elf Jahren als freiwillige Helferin nach Kfar Menachem kam und schon in der ersten Woche ihren heutigen Ehemann traf. Beide arbeiten in der Stadt und beide zahlen ihr gesamtes Gehalt in die Gemeinschaftskasse. Die jungen Eheleute sind sehr für eine schrittweise Privatisierung und würden "gern auf das geplante Sicherheitsnetz verzichten." Doch das wird nicht passieren, denn die junge Generation hat "keine Lobby".
Billi und ihren Mann hielt die "bessere Lebensqualität" im Kibbuz. Vor allem die beiden Kinder seien hier gut versorgt. Die Kinderhäuser, in denen seit über zehn Jahren nicht mehr übernachtet wird, gelten auch über die Kibbuzgrenzen hinaus als besonders gute pädagogische Einrichtungen. Mehr und mehr Kinder aus der Umgebung kommen tagsüber in den Kibbuz. "Vier frühere Klassenkameraden meines Mannes wollen dieses Jahr wieder zurückkommen", berichtet Billi. "Als Mieter - nicht als Kibbuzmitglieder."
Susanne Knaul ist Israel-Korrespondentin der "tageszeitung".