Das ist das Gute an einem Untersuchungsausschuss: Man kann sich, zumindest als Ausschussmitglied, ganz in die Aktenberge vertiefen, wenn es unangenehm wird. Von dieser Gelegenheit machte gleich zu Beginn der ersten Live-Befragung am 21. April der Vorsitzende selbst Gebrauch. Als um 9.20 Uhr der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer (Bündnis 90/Grüne), mit seinen Erläuterungen begann, blätterte Hans-Peter Uhl (CSU) eine ganze Weile beflissen in dem vor ihm liegenden Aktenordner. Denn Volmer leitete seine zweistündige Rede sofort mit einem Angriff ein: Entschieden verurteilte er, von Uhl als "einwanderungspolitischer Triebtäter" bezeichnet worden zu sein und bezeichnete die Vorwürfe der Opposition als "Diffamierungs- und Rufmordkampagne" gegen seine Person. Ludger Volmer ließ sich offenbar von seiner Vorladung durch den Visa-Untersuchungsausschuss und den auf ihn gerichteten Fernsehkameras in keiner Weise beeindrucken: Er fände es "äußerst befremdlich", richtete er sich an den Ausschussvorsitzenden, dass ihm der "schärfste Ankläger" in der Affäre nun in einer richterähnlichen Funktion gegenübersitze.
Daran konnte Volmer nun aber nichts ändern. Äußerst selbstbewusst begann er nach dieser Einführung über jenen Erlass zu sprechen, der unter dem Namen "Volmer-Erlass" wohl ins kollektive Gedächtnis eingehen wird. Gemeint ist ein Erlass des Auswärtigen Amtes (AA) vom März 2000, mit dem die Vergabe für Visa an deutschen Auslandsvertretungen liberalisiert worden war. Union und FDP werfen der Bundesregierung vor, dadurch massenschaft Schwarzarbeit und Zwangsprostitution in der Bundesrepublik befördert zu haben. Tatsächlich stiegen die Visaanträge nach Inkraftreten des Erlasses vor allem in der Botschaft der ukrainischen Hauptstadt Kiew überproportional an. Und tatsächlich waren illegal erschlichene Visa und ein sich darum entwickelnden mafiöses Netzwerk ein erhebliches Problem, mit dem sich das AA auseinandersetzen musste.
Ludger Volmer verteidigte den Erlass dennoch: "Dieser Erlass war nicht die Ursache für den massenhaften Missbrauch von Einreisevisa." Vielmehr sei dafür die "Weisungslage" des AA verantwortlich, die er bereits bei seinem Amtsantritt 1998 vorgefunden habe. Sowohl das Reisebüroverfahren und die Reiseschutzpässe (eingeführt Mitte der 90er-Jahre) hätten jene Situation begünstigt, in der das AA schließlich handeln musste. "Wir haben in den Jahren 1998 und 1999 eine große Anzahl von Beschwerdebriefen erhalten, in denen es um Fälle ging, wo Leuten das Visum verwehrt worden ist", sagte Volmer. Darin sei es unter anderem um Menschen gegangen, die dringend eine medizinische Behandlung in der Bundsrepublik benötigt hätten und denen das Visum wegen unklarer Formalitäten nicht ausgestellt wurde. Aber auch von Behörden und Institutionen, unter anderem von der Bonner Vertretung der Vereinten Nationen, seien solche kritischen Reaktionen gekommen, so Volmer weiter. "Es ging darum, den Reiseverkehr für Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur aber auch für Privatpersonen zu fördern." Dies alles sei natürlich nur unter der Prämisse angestrebt worden, Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik zu wahren. "Das war der Hintergrund und nichts anderes."
Volmer bezeichnete den Vorwurf der Opposition, mit diesem Erlass sollte das Ausländerreicht ausgehebelt werden, als "totalen Humbug". Ausführlich wies er darauf hin, dass der Erlass ausdrücklich die Einhaltung der Schengen-Regeln und des deutschen Ausländerrechts verlangte.
Unsicherheit herrscht nach wie vor darüber, wie der Satz "im Zweifel für die Reisefreiheit" in den Erlass gelangt ist. Volmer bekräftigte zwar, einer der Initiatoren des Erlasses gewesen zu sein. "Aber an der Texterarbeitung war ich selber nicht beteiligt", sagte der Grünen-Politiker. "Ich habe den Satz später nicht nur nicht formuliert, sondern ihn auch in Frage gestellt." Er sei jedoch von Mitarbeitern darauf hingewiesen worden, dass der Satz an sich keinen Aussagewert besitze sondern nur als "Illustration" eines vorangegangenen Sachverhaltes genutzt worden sei.
Bereits einen Tag vor der Vernehmung Volmers konnte der Ausschuss diese Frage nicht klären. Geladen war dort unter anderm der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung im AA, Gerd Westdickenberg. In dieser Funktion hatte er an der Entstehung des "Volmer-Erlasses" zwar erheblichen Anteil, konnte sich jedoch während seiner Aussage an viele Dinge nicht mehr erinnern. Auch über den Umstand, von wem dieser Satz in den Erlass geschrieben worden sei, wusste er nichts zu sagen. "Mir war nur vom Hörensagen bekannt, dass man von Seiten des Staatsministers großen Wert darauf gelegt habe", sagte der heutige Botschafter beim Vatikan. Westdickenberg konnte sich an so viele Details nicht mehr erinnern, dass die Opposition irgendwann ungeduldig wurde. "Herr Zeuge, ihre Erinnerung ist ja doch schon etwas getrübt. Kann es sein, dass einige Dinge an ihnen vorbei geregelt wurden", fragte Hellmut Königshaus (FDP) gereizt. Und CDU-Obmann von Klaeden sprach gar von einem "erstaunlichen Maß an Gedächtnisschwund", das bei dem Beamten des AA zu bemerken sei.
Wesentlich deutlicher äußerten sich die vernommenen Botschafter in der Sitzung am 20. April. Der frühere Botschafter Ernst-Jörg von Studnitz bezeichnete den "Volmer-Erlass" als Fehler, aber nicht als rechtswidrig. Durch die Weisung sei der Eindruck entstanden, Visa-Anträge müssten weniger scharf geprüft werden. Allerdings stellte der Diplomat klar, dass die Moskauer Botschaft die Anweisungen wegen ihrer Undeutlichkeit ignoriert habe. Statt dessen habe man die alte Praxis der umfassenden Prüfung aller Visa-Unterlagen beibehalten. Auch der Botschafter in der Ukraine, Dietmar Stüdemann scheute sich nicht vor klaren Worten. Der im Volmer-Erlass formulierte Satz "im Zweifel für die Reisefreiheit" habe die Beweislast umgekehrt. Nicht mehr der Antragsteller, sondern der Entscheider habe nachweisen müssen, ob der Visa-Antrag den Vorgaben entspreche. Als "nicht praktikabel" für die Ukraine bezeichnete Stüdemann den Erlass, da es dort ein kriminelles Umfeld gebe, das Menschen mit erschlichenen Visa ins Ausland bringe.
Ludger Volmer betonte während seiner Vernehmung jedoch, dass sich der Ermessenspielraum bei der Visa-Vergabe nur auf "Restzweifel" bezogen habe, wenn sie denn nach allen vorangegangenen Prüfphasen noch bestanden haben. "Es ging uns nicht darum, für eine Riesengruppe die Grenze zu öffnen, sondern für eine relativ kleine Gruppe von Menschen die Einreisebestimmungen zu erleichtern."
Was die politischen Bewertungen der Zeugenaussagen in der vergangenem Woche angeht, kann man auf solch eine Einigkeit wohl vergeblich warten. Das läge auch nicht im Sinn des Verfahrens. Während die Opposition vor allem mit den Aussagen der Botschafter zufrieden war, lobten die Regierungsfraktionen den Auftritt Ludger Volmers. Entgegen aller Erwartungen um diese erste Life-Sitzung eines Unterschungsausschusses verlief sie betont sachlich und undramatisch. Allerdings auch ohne einen inhaltlichen Durchbruch.