Die Karibik ist weder in ihrer räumlichen noch zeitlichen Dimension exakt einzugrenzen. Sie definiert sich über ihre innere Heterogenität und ihre Vielfalt, und nicht über ihre Gemeinsamkeiten - von einem grundlegenden übergreifenden Umstand abgesehen: Sie ist wie wohl kaum eine andere Region der Welt eine Schöpfung des Kolonialismus. Die blutige, menschenverachtende, in europäische Politik und vor allem Kriege verwobene Geschichte der Unterdrückung, Ausbeutung und die wechselnden Abhängigkeiten haben zu bis heute anhaltenden Konsequenzen geführt.
Nachdem sich Kolumbus, so ein Beitrag in dem Sammelband, nahezu zwangsläufig über seinen Ankunftsort irren musste, wurde die Karibik schnell zum Einfallstor in den südlichen Teil der Neuen Welt, damit aber auch zum außereuropäischen Schauplatz innereuropäischer Machtkämpfe, zum Schlachtfeld und Spielball im Aufstieg und Untergang europäischer Mächte - Spanien, England, Frankreich, aber auch Dänemark, Niederlande und Schweden.
Dass in dieser historischen Entwicklung die Rolle der Piraterie, deren Übergänge zwischen auf private Rechnung agierenden Piraten, den mit staatlicher Lizenz operierenden Korsaren und offiziellen Flottenverbänden durchaus fließend waren, wird anschaulich aufbereitet. Aus einer französischen Initative entstanden, wurde in der weiteren Entwicklung in einer Mischung aus Profitgier, Patriotismus und nicht zuletzt protestantischem Eifer, dem katholischen Spanien die Vormachtstellung streitig zu machen, die Verlagerung europäischer Konflikte betrieben.
Zwei Produkte - Kaffee und Zucker -, so ein Beobachter im Jahre 1773, haben "das Unglück zweier großer Weltregionen" begründet: "Amerika wurde entvölkert, weil man Land haben wollte für ihren Anbau, und Afrika wurde entvölkert, weil man Menschen haben wollte, die sie anbauten." Gesellschaft und Wirtschaft der Karibik sind - mit bis zum heutigen Tage anhaltenden Langzeitfolgen - geprägt von Genozid, Versklavung und weitgehender Monokultur.
Mit der arbeits- und kostenintensiven Plantagenökonomie wurde ein agroindustrieller Komplex geschaffen, der, allerdings ohne jeden integrativen regionalen Ansatz, die Karibik zu einer der am schnellsten wachsenden Region machte. Bis heute wird diskutiert, inwieweit dadurch die Industrialisierung Englands erst ermöglicht und vorangetrieben wurde.
Zu einem bitteren Menschheitskapitel zählt in diesem Zusammenhang der Sklavenhandel, ohne den die Plantagenökonomie nicht möglich gewesen wäre. Bis zur Abschaffung des Sklavenhandels Mitte des 19. Jahrhunderts wurden rund zehn Millionen Afrikaner verschleppt. Wie wenig die Afrikaner selbst im Vergleich zu der nahezu ausgerotteten indianischen Urbevölkerung als Menschen, sondern als Ware angesehen wurden, wird durch die Empfehlung von Bartolomé des las Casas, dem "Apostel der Indianer", klar, der den Sklaveneinsatz befürwortete, um so die indianische Bevölkerung zu schützen.
Afrika blieb trotz aller durch viele Prozesse entstandenen Synkretismen bis heute für die große Mehrheit der Bevölkerung ein, wenn nicht der identitätsstiftende Bezugspunkt. Trotz all der Unterworfenheit und Abhängigkeiten kam es nicht zu einem Modell europäischer kultureller Hegemonie. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die weißen Herren primär gewinnorientiert und nicht am Aufbau einer Kolonialgesellschaft interessiert waren. Diese Gleichgültigkeit ermöglichte den Sklaven trotz aller Entwurzelung und Unterdrückung einen limitierten Identitätserhalt durch Festhalten an Traditionen als Form von Widerstand.
Auch hierin wurzelten die bis 1863 belegbaren über 250 Sklavenaufstände. Angestoßen durch die Französische Revolution kam es bereits 1804 nach der ersten erfolgreichen Sklavenrevolution in Haiti zum ersten unabhängigen Staat des Subkontinents. Allein Jamaika verzeichnete im 18. Jahrhundert 19 große Aufstände.
Die Rückbesinnung auf "Mutter Afrika" weist jedoch nicht nur rückwärtsgewandte Bezüge, sondern auch aktuelle Implikationen auf. Dies gilt zum einen für die beeindruckende kulturelle und religiöse Vielfalt.
Einen besonderen Beitrag leistet(e) Jamaika für die historische und politische Bewusstseinsbildung. Es fing an mit Marcus Garvey und seinem Versuch, mittels einer "Back to Africa"-Bewegung eine freiwillige Repatriierung nach Afrika ins Werk zu setzen, bis hin zur Rastafari-Bewegung, einer im vorigen Jahrhundert entstandenen Protestbewegung gegen die Unterdrückung durch das westliche System als dem neuen Babylon, das vor allem durch Bob Marley und den Reggae zu einem weltweiten Transformator dieser Botschaft wurde. Ergebnis ist, dass das "politische Gewicht jamaikanischen Einflusses auf die Afrika-Diskurse in der Diaspora das der geopolitischen Bedeutung der Karibikinsel um ein Vielfaches (übersteigt)" (Ziske).
Wie bei Lateinamerika bedarf es auch und gerade hier eines Blicks auf das Verhältnis zu den USA. Interventionismus war, mit durchaus unterschiedlicher Begründung, auf der Grundlage der 1904 erweiterten Monroe-Doktrin von 1823 Bestandteil der US-Außenpolitik. Dies galt auch und gerade nach dem "splendid little war" von 1898, in dem die USA Spanien besiegten, dessen Kolonialherrschaft auf Kuba beendeten und die Grundlage für ihre bis heute andauernde Hegemonialstellung in der Region schufen. Nachdem über Jahrhunderte überwiegend von einer dem Wandel unterworfenen multizentrischen Orientierung der Karibikstaaten gesprochen werden konnte, ist die Region, Kuba ausgenommen, trotz unterschiedlicher politischer Systeme und einer überwiegend spanisch sprechenden Bevölkerung zu den USA orientiert und in hohem Umfange von diesen abhängig.
Welches Konglomerat an Spannungen und Problemen im karibischen Raum bestanden zeigt der Umstand, dass abgesehen von Bolivien (1952) drei der bedeutendsten und authentischen Revolutionen Lateinamerikas in dieser Region stattfanden (Mexico 1910, Kuba 1959 und Nicaragua 1978). Jede war auf ihre Art von weltgeschichtlicher Bedeutung - sei es durch die nachhaltige Wirkung und die Jahrzehnte dauernde Umgestaltung eines Landes, durch langjährige Internationalisierungsversuche mittels staatlich finanzierten Revolutionsexports, durch ihre Bedeutung als Schauplatz für Stellvertreterauseinandersetzungen im Ost-West-Konflikt oder durch den im Endergebnis etiketthaftem (Miss)brauch von an sich ernstzunehmenden Ansätzen wie der Theologie der Befreiung. Nicht zu vergessen eine jeweils sehr spezifische, teilweise bis heute andauernde Mythenbildung, die umso stärker wirkt und umso unkritischer aufgenommen wird, je weiter sie vom geografischen Ursprung entfernt ist.
Von Kuba, dem einzigen der Hegemonialmacht USA nach wie vor trotzenden sozialistischen Solitär der Karibik einmal abgesehen, liegen kaum spezifische Länderstudien der Karibik vor. Jamaika ist eine der Ausnahmen. Auch wenn politisch deutlich stabiler als andere Karibik-Staaten, steht Jamaika stellvertretend für viele historische wie aktuelle Probleme dieser Region. Das politische Institutionensystem ist am britischen Vorbild orientiert, die Queen ist nach wie vor Staatsoberhaupt, vertreten durch einen Generalgouverneur. Die Bevölkerung ist überwiegend afrikanischer Herkunft, allerdings mit einer Reihe von ethnischen Minderheiten. Mit rund 2,5 Millionen Einwohnern weist Jamaika weltweit die dritthöchste Quote gewaltsamer Tötungsdelikte in Relation zur Bevölkerung auf.
Die Karibik insgesamt hat einen beachtlichen demografischen Wandel erlebt. Allein zwischen 1950 und 2000 hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Die Region steht vor einer problematischen ökonomischen Zukunft. Mit ihrer kaum diversifizierten, stark monokulturell ausgerichteten Wirtschaftsstruktur, geprägt von immer weniger konkurrenzfähigen Produkten, wenngleich teilweise getragen durch einen insgesamt stabilen Tourismus, hat sich die Karibik von einer traditionellen Einwanderer- zu einer Auswanderungsgesellschaft vor allem in Richtung Europa, USA und Kanada entwickelt.
In Jamaika beispielsweise erreichen die von im Ausland lebenden Jamaikanern getätigten Überweisungen die Höhe der aus dem Tourismus erzielten Deviseneinnahmen.
War die Karibik, wenngleich abhängig und ausgebeutet, in der Vergangenheit zumindest in ein ökonomisches Netzwerk eingebunden, so droht sie in der heutigen Form der Globalisierung immer stärker aus übergreifenden Strukturen herauszufallen. Die sozio-ökonomischen Probleme können durch eine in den Anfängen steckende regionale Wirtschaftsintegration nicht aufgefangen werden.
Die Karibik weist eine starke Diversifikation ihrer ethnosozialen Struktur auf. Zurückzuführen ist dies auf die drei zentralen Migrationswellen Sklavenhandel, Kontraktarbeiter und freiwillige, vor allem aus Europa und Asien stammende Immigranten, die in vielfältigen und sich überlagernden Prozessen über Jahrhunderte eine beeindruckende politische, sprachliche, ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt hervorgebracht haben. In dieser Heterogenität liegt die wesentliche Ursache dafür, dass sich die Karibik einer überzeugenden Kulturraum-Definition widersetzt.
Die Karibik bleibt trotz interdisziplinärer Annäherungen "ein Widerspruch, eine Imagination von Einheit, ausgebreitet über eine pulsierende politische, soziale und kulturelle Heterogenität, deren räumliche Grenzen unklar und wechselnd sind". Der Ansatz des Sammelbandes, vor diesem Hintergrund erst gar nicht zu versuchen, diese Widersprüchlichkeiten aufzulösen, sondern durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen "den Raum in seiner dynamischen Komponente sichtbar zu machen", ist durchaus richtig.
So interessant die insgesamt zwölf, wenngleich im einen oder anderen Fall allzu detailverliebten Beiträge auch sind, so ist doch eine kritische Anmerkung zu machen. Der im Untertitel zum Ausdruck kommende Anspruch, Geschichte und Gesellschaft der Karibik bis zum Jahre 2000 zu beleuchten, wird nicht eingelöst. Regionale Integrationsansätze werden nur in der Einleitung erwähnt, die Analyse des Verhältnisses zu den USA endet im Wesentlichen mit dem Jahre 1934, eine (vergleichende) Analyse politischer Systeme fehlt ebenso wie die unter verschiedenen Gesichtspunkten interessante Frage nach dem Demokratiepotenzial. Dennoch: Zum fundierten Einstieg und einer durch eine gute weiterführende Bibliografie mögliche Weiterbeschäftigung mit der Karibik ist dieses Buch sehr zu empfehlen.
Dies gilt deutlich weniger für das Jamaika-Buch des ehemaligen österreichischen, mit der Betreuung von Jamaika mitbetrauten Botschafters in Kanada. Das Buch erhebt, was kein Nachteil sein muss, keinen wissenschaftlichen Anspruch und bietet sicher im einen oder anderen Fall mehr Informationen als ein kleiner Reiseführer. Über die Gewichtung der an sich schon jeweils sehr knappen Kapitel wundert man sich; so werden dem Sport so viele Seiten wie dem institutionellen politischen System gewidmet. Als erste Hinführung zu Jamaika mag das Buch, dem eine Lektorierung sehr gut getan hätte, angehen, mehr sollte man nicht erwarten.
Bernd Hausberger / Gerhard Pfeisinger (Hrsg.)
Die Karibik.
Geschichte und Gesellschaft 1492 - 2000.
Edition Weltregionen Band 11.
Promedia Verlag, Wien 2005; 224 S., 24,90 Euro
Wendelin Ettmayer
Jamaika - mehr als Rum und Reggae. Chancen und Probleme eines Entwicklungslandes.
Trauner Verlag, Linz 2004; 168 S., 14,80 Euro