Schlagzeilen wie diese sind Indiz für einen tief greifenden Strukturwandel im Bereich der deutschen Kulturorchester. 136 professionelle, öffentlich subventionierte Orchester bieten derzeit Planstellen für 10.311 Musiker. Nirgends auf der Welt existiert eine ähnliche Dichte und ein vergleichbarer Reichtum an Orchesterkultur. Doch die Tage dieses Idylls, dessen Ursprung weit zurückreicht bis zum Repräsentationsbedürfnis der deutschen Fürstenhöfe, scheinen gezählt. Verkleinerungen, Streichungen, Fusionen bedrohen die noch blühende deutsche Orchesterlandschaft in ihrer Einzigartigkeit.
Die deutschen Kulturorchester sind im Wesentlichen in vier Kategorien eingeteilt: es gibt 80 Opernorchester, 35 reine Konzertorchester, sieben Kammerorchester sowie die Klangkörper der ARD-Anstalten, darunter zwölf Rundfunkorchester, vier Big Bands und fünf Rundfunkchöre.
Daneben besteht eine steigende Zahl von "freien" Orchestern, die oft Spezialensembles für alte oder neue Musik sind und in denen sich ein bislang seltener Typus des Orchestermusikers wieder findet, der des Freiberuflers.
1992 - kurz nach der Wiedervereinigung - betrug die Zahl der Kulturorchester noch 168, die der Orchesterplanstellen noch 12.159. Die Ursachen für den dramatischen Schrumpfungsprozess von etwa einem Sechstel liegen in den drastischen Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand sowie dem unaufhaltsamen Wandel von Musikrezeption und Freizeitverhalten. Gleichzeitig herrscht ein Überangebot hoch qualifizierter Musiker: Nur die deutschen Musikhochschulen allein produzieren pro Jahr etwa 1.500 "neue" Orchestermusiker.
Die Kardinalfragen der Legitimation sind: Muss jede größere Stadt mindestens ein Orchester haben? Und ist dessen Größe noch zeitgemäß? Die Beantwortung sollte nicht allein den Kämmerern und Finanzpolitikern überlassen werden. Denn ein Orchester kann niemals das einspielen, was es kostet. Diese Regel gilt nicht nur im bedrohten Orchesterparadies Deutschland, sondern auch in Ländern wie der Schweiz oder den USA, wo das Geld im Wesentlichen nicht von der öffentlichen Hand kommt, sondern aus der Wirtschaft. Letztlich müssen die Bürger entscheiden, was ihnen ihr Opernhaus, ihr städtisches Orchester Wert ist. Auch da wieder ein Blick ins Nachbarland Schweiz: Die Zürcher Bürger stimmten 2003 mit großer Mehrheit (70 Prozent) für die Erweiterung des Opernhauses, obwohl sicher nur ein Bruchteil der Abstimmenden auch tatsächlich Opernbesucher sein konnten.
Ob jede größere Stadt mindestens ein Orchester haben muss, ist also vor allem eine Frage der kulturellen Identität der Bürger der jeweiligen Stadt. Verordnungen und Gesetze allein machen noch keine Gesellschaft. Ohne kulturelles Bewusstsein ist eine Gesellschaft nicht wirklich lebensfähig, Daher wäre es nur folgerichtig, im Kulturbereich den Begriff "Subvention" endlich durch "Investition" zu ersetzen. Das bleibt aber reine Begriffskosmetik, so lange man sich nicht mit dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandel in der Gesellschaft selbst auseinander setzt.
Dazu zählen Forderungen an die Orchester, selber die Einnahmenseite zu steigern, dazu zählt die Forderung nach neuen Vermittlungsformen von Orchestermusik - zahlreiche große und kleine Festivals und Orchester versuchen sich inzwischen mit unterschiedlichem Erfolg auf diesem Gebiet. Dazu zählt weiter die Forderung nach mehr Zeitgenössischem. Das Sinfoniekonzert darf nicht zum klingenden Museum verkommen, es muss so zeitnah und lebendig werden wie es etwa die bildende Kunst mit Publikumserfolgen wie der "MoMa"-Ausstellung in Berlin oder mit den unkonventionellen Präsentationen des Frankfurter Städel-Museums vormacht.
Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht davon, dass "die Kunst ja selbst das Fitness-Studio ist, in der die kapitalistische Psyche geformt wird. Hier, im Fitness-Studio des Konsumismus, wird eingeübt, immer mehr gut zu finden, immer mehr zuzulassen, immer mehr zu verstehen und immer noch zu glauben, man habe Kriterien". An diesem "Fitnessprogramm" nimmt die zeitgenössische Musik viel zu wenig teil. Sie ist noch gegen den "Konsumismus" resistent. Darüber kann sich aber höchsten ein Anhänger der reinen Lehre freuen: Denn wer nicht gehört wird, hat auch keine Wirkung.
Auf der anderen Seite verändern sich Rezeptionsverhalten und Musikkonsum dramatisch. Das Konzertangebot hat sich in den vergangenen zehn Jahren explosionsartig vermehrt, die Zahl der Spielstätten ebenfalls. Parallel dazu verschwindet der klassische Konzertgänger - und sein Sinnbild, der treue Abonnent - von der Bildfläche. Heute überlegt sich jeder potentielle Konzertbesucher, für welches "Freizeit-Erlebnis" oder welchen "Event" er sein Geld ausgibt. Schwindende Kaufkraft trägt ebenfalls dazu bei, hier einen knallharten Wettbewerb um den Kulturkonsumenten zu entfachen.
Gespart wird nicht nur im privaten Haushalt, nicht nur bei den Kommunen, auch innerhalb der ARD-Anstalten ist eine heftige Spardebatte im Gange. Grotesk mutet derzeit der Versuch der Rundfunksender an, mehr Gebühren zu fordern und gleichzeitig ihren Kulturauftrag - und nur der legitimiert sie zur Gebührenforderung - einzudampfen. Das Argument, es müssten drastische Einschnitte im Kulturprogramm der Sender vorgenommen werden, da die Rundfunkgebühren entgegen einer Empfehlung der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten) statt um 1,09 Euro lediglich um 88 Cent angehoben wurden, ist wenig stichhaltig. Es sind gerade die kulturellen, hintergründigen und nicht dem Quotendruck ausgelieferten Medieninhalte, die das gebührenfinanzierte System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausmachen.
Die ARD gibt für ihre zwölf Orchester, fünf Chöre und vier Big Bands rund 155 Millionen Euro aus. Die Kosten liegen bei zirka 36 Cent pro Gebührenzahler, was rund zwei Prozent der Rundfunkgebühr entspricht. Für das, was diese Klangkörper im Zusammenspiel mit den jeweiligen Rundfunkredaktionen in den vergangenen Jahrzehnten leisteten, und für ihr aktuelles Potenzial und Schaffen, ist das nicht zu viel. Dabei wäre es wenig hilfreich, zu sagen, eine Reform der Theater- und Orchestertarife sei angesichts knapper Kassen völlig unnötig. Doch Strukturveränderungen sollten vor allem deshalb vorgenommen werden, um die Klangkörper zu erhalten, nicht um sie abzuschaffen. Auch müssen Kriterien dafür erarbeitet werden, was umwandelbar ist oder abgeschafft werden kann und was nutzlos wird.
Warum nicht Spezialensembles für alte oder neue Musik einrichten, warum nicht ein Orchester, das sich experimentellem Jazz widmet, warum nicht die alte Idee des Orchester-Pools mit neuen inhaltlichen und qualititativen Vorgaben aufgreifen? Nicht die Formationen müssen um jeden Preis erhalten und verwaltet werden, die musikalische Betätigung gilt es zu erhalten und auszubauen. Das gilt nicht nur für die ARD, es gilt für jeden Träger eines Orchesters. Doch Umstrukturierungen müssen von kompetenter Hand begleitet werden: Kürzt man - wie geschehen - den SWR-Chor, von 36 Planstellen auf 24, dann schafft man ihn eigentlich ab, denn er nimmt aufgrund seiner hochgradigen Spezialisierung und aufgrund seines auf ihn "zugeschnittenen" Repertoires eine Sonderposition ein. Überspitzt gesagt wäre es, als ob man dem Arditti-Quartett den zweiten Geiger wegstreicht.
Mangel und Verschwendung liegen im Kulturbereich dicht beieinander. Horrende Gagen für Stars und Dirigenten, Musizieren nach TVK-Tariftabelle bei den städtischen B- und C-Orchestern, innerhalb des letzten Jahrzehnts haben sich die Kosten für internationale A-Orchester verdreifacht, von Solistenhonoraren im oberen fünfstelligen Bereich ganz zu schweigen. Dagegen herrscht aus der Not geborene Improvisationskunst bei nicht subventionierten Ensembles. Doch Jammern nützt nichts, Ideen im künstlerischen und im Marketingbereich sind gefragt und auch vorhanden. Ein Beispiel für innovative Orchesterkultur ist nach wie vor die Junge Deutsche Philharmonie. Gegründet 1974 als demokratisch verfasstes Studentenorchester - angesiedelt zwischen Studium und Beruf - strahlt sie nach wie vor wichtige künstlerische und auch berufsständische Impulse in die heutige Orchesterlandschaft aus.
Frischen Wind brachte auch die Junge Philharmonie Venezuela nach Deutschland: Gegründet vor drei Jahrzehnten brachte man dort Sozialarbeit und künstlerische Spitzenförderung unter einen Hut. Hier wird mit einer Vitalität und Unbekümmertheit musiziert, die im vom Karrierekampf geprägten deutschen Jugendorchesterbetrieb schon lange verloren gegangen ist. "Die Zukunft der klassischen Musik liegt in Venezuela", sagt Simon Rattle über die Junge Philharmonie Venezuela. Bedenkt man die bahnbrechenden Impulse, die er seinen Berliner Philharmonikern mit seinem Education Programm "Zukunft@BPhil" gegeben, dann zeigt das seinen Respekt, den er vor diesem Ensemble hat. Vom innovativen Potenzial dieses Orchesterprojektes kann man sich in Deutschland zwischen dem 23. und dem 29. September überzeugen. In dieser Zeit gastieren die Venezuelaner in Bonn, Hamburg, Münster.
Ebenfalls wegweisend für die Zukunft der Kulturorchester sind Akademien des Ensemble Modern, des Freiburger Barockensembles mit dem ensemble recherche sowie des Lucerne Festivals. Aus dieser innovativen Akademiearbeit heraus wachsen Jahr für Jahr Orchestermusiker heran, für die neue Musik eine künstlerische Herausforderung ist und kein lästiger Dienst. Die jungen Musiker erarbeiten die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts und werden später ein kompetentes Netzwerk bilden, aus dem heraus mit jahrzehntelanger Verzögerung der Musik des 20. Jahrhunderts endlich einen Platz in den Konzertsälen erspielt werden kann. Denn nach wie vor gilt das Postulat des italienischen Pianisten Maurizio Pollini, der wie kein Zweiter sowohl in der Welt von Chopin, Beethoven und Bach als auch in der von Nono, Stockhausen oder Schönberg zu Hause ist: "Neue Musik muss einfach häufiger gespielt werden, dann wird sie auch besser verstanden und mehr geschätzt."
Ob alle diese jungen Musiker noch in den alten Strukturen ihren Platz finden werden, ist fraglich. Doch ihr Können und ihre Motivation sind der wichtigste Garant dafür, dass auch nach einem Strukturwandel Deutschland seine einzigartige Orchesterlandschaft weiterhin besitzen wird. In vielen technischen und naturwissenschaftlichen Feldern ist "Made in Germany" nicht länger mit Marktführerschaft gleichzusetzen. Im Sektor Musik, insbesondere in seiner hochdifferenzierten Orchesterkultur, ist dies noch anders. Heute werden die Weichen dafür gestellt, dass dies auch in Zukunft so sein wird.
Der Autor ist Redaktionsleiter der "neue musikzeitung" (nmz).