"Interreto" ist ein Wort auf Esperanto und bedeutet Internet. Schon die Tatsache, dass dieses Wort existiert, veranschaulicht, dass Esperanto keineswegs vom Aussterben bedroht ist. Im Gegenteil: Die Kunstsprache ist äußerst lebendig. Selbst beim Online-Lexikon Wikipedia ist sie vertreten. Über 1.000 User schreiben fleißig Einträge auf Esperanto. Bisher sind mehr als 21.000 Artikel zu Stande gekommen. Esperanto nimmt damit Platz 14 unter den Wikipedia-Communities ein. "Einer der Grundgedanken für die Esperanto-Wikipedia", erklärt Chuck Smith, der in New York ansässige Gründer, "war Leuten in Entwick-lungsländern, die keine europäische Sprache beherrschen, Wissensinhalte zur Verfügung zu stellen".
Im Januar 2001 ist die englischsprachige Wikipedia gestartet, die heute mehr als eine halbe Million Stichwörter umfasst. Zum Vergleich: Die renommierte "Encyclopædia Britannica" enthält in ihrer aktuellen Ausgabe gerade einmal 75.000 Artikel. Noch die zweitgrößte Wikipedia-Version, die im Mai 2001 gegründete deutsche Fassung, beinhaltet mehr als vier Mal so viele Einträge, an denen sich rund 25.000 Autoren bislang beteiligt haben. Jeden Tag kommen 400 neue Einträge hinzu. Wikipedia ist in insgesamt mehr als 60 Weltsprachen vertreten sowie in zusätzlichen Idiomen, darunter Baskisch, Plattdeutsch und afrikanische Sprachen wie Bambara und Kisueli. Die einzelnen Landesversionen entstehen unabhängig voneinander und werden meist von Muttersprachlern verfasst.
Nie zuvor ist der Versuch unternommen worden, das gesammelte Weltwissen derart vielfältig, umfangreich und in so vielen Sprachen darzustellen. Und noch nie zuvor wurde dabei so radikal auf Fachwissen verzichtet. An Wikipedia kann sich jeder beteiligen. Zehn, hundert oder 1.000 Laien ersetzen den Experten. Das kommt einem Affront für die Fachwelt gleich, deren Exklusivwissen üblicherweise in Lexika einfließt. Interessant und folgenreich ist Wikipedia auch deshalb, weil es die historische Demokratisierungsfunktion, die allen Enzyklopädien innewohnt, weiter vorantreibt. Es ist abzusehen, dass Printlexika einmal zu Nischenmärkten verkommen werden.
Enzyklopädien waren frühe Vorboten der Aufklärung und haben besonders den Naturwissenschaften zu ihrem Recht gegenüber den Indoktrinationen von Kirche und Staat verholfen. In seinem spannend erzählten Buch "Das vernünftige Ungeheuer" beschreibt Philipp Blom, wie die Entscheidung für eine alphabetische Ordnung bei der von Denis Diderot ab 1746 begonnenen französischen Encyclopédie, der Mutter aller Lexika, "sämtliche Formen von Wissen" demokratisierte: "Mit ihrer Hilfe entledigte man sich der Notwendigkeit, bestimmten Themen wie der Theologie ganze Abschnitte zu widmen."
Diese Tradition aufnehmend kann Wikipedia für sich in Anspruch nehmen, das erste Open-Source-Projekt in der Welt der Enzyklopädien zu sein. Mit Hilfe einer bestimmten Software, die es erlaubt, Texte auf einer Internet-Seite frei zu editieren, ist jeder befugt, einen neuen Artikel zu beginnen oder inhaltliche Änderungen an alten vorzunehmen. Alle Veränderungen werden automatisch protokolliert und sind für jeden einsehbar. Im Prozess des "peer-reviewing", des gegenseitigen Überarbeitens, "mendelt" sich dann allmählich Qualität heraus: durch diskursives Kreuzen der besten Informationen. Die manchmal spannenden Kämpfe um Deutungshoheit lassen sich in separaten Diskussionsforen verfolgen.
Dieses Verfahren hat Kritik heraufbeschworen: Wie kann Qualität gewährleistet werden, wenn sie sich so leicht wieder zerstören lässt? Darf man dem unautorisierten Wissen von Laien trauen? Wie repräsentativ gewichtet ist das Wissen gemessen an seiner Bedeutung? So lauten einige der nicht selten von konkurrierenden Verlagen vorgetragenen Vorbehalte. Gleichwohl nehmen die Wikipedianer solche Kritik sehr ernst und arbeiten an der Verbesserung der Einträge. Inzwischen partizipieren einzelne Autoren nicht mehr inhaltlich, sondern lektorieren und durchforsten die Artikel auf Punkt und Komma.
Internen Erhebungen zu Folge entspricht die Länge der Haupteinträge bei Wikipedia den großen Fachaufsätzen bei Brockhaus. Wenn ein Thema für besonders wichtig erachtet wird, fällt der Artikel auch ohne redaktionelle Direktive entsprechend gründlich aus. Auf dem unlängst in Frankfurt stattgefundenen Wikimania-Kongress erklärte der Schweizer Publizistikstudent Andreas Brändle in seinem Referat "Zu viele Köche verderben nicht den Brei" das Zustandekommen von Qualität bei Wikipedia als Zusammenspiel von Interesse und Relevanz. Je mehr Relevanz ein Thema hat, desto mehr Leute beteiligen sich daran. "Und ein großes auch quantitatives Interesse", so Brändle, "hat wiederum Einfluss auf die Qualitätstiefe". Selbst "Vandalismus", die mutwillige Abänderung eines Artikels, schätzt Brändle positiv ein. Entsprechende Vorgänge gelangen auf eine Beobachtungsliste und werden argwöhnisch verfolgt.
Wikipedia ist ein Erfolgsprojekt des Internets, dessen großer Vorteil gegenüber traditionellen Printausgaben auch in der Aktualität liegt. Zeitphänomene und deren Stichwörter werden schneller aufgegriffen als dies Verlagen und ihren behäbigen Aktualisierungszyklen möglich ist. Neben redaktionellen Verteilkämpfen schaffen dort besonders Platzprobleme eine Hierarchie der Bedeutsamkeiten. Bei Wikipedia hingegen herrschen weder Platznöte noch Exklusivität vor.
Wichtige aktuelle Stichwörter werden einfach aufgegriffen und bearbeitet. Der Eintrag beispielsweise über Papst Benedikt XVI. zeichnet alle wichtigen Stationen im Leben des Kirchenmannes nach und stellt seine Geisteswelt vor. Überdies befasst sich ein eigenes Themenportal mit Informationen rund um den Pontifex. Alle relevanten Nachrichten werden in der Abteilung "Wikinews" gesammelt, päpstliche Zitate bei "Wikiquote" vorgestellt und Fotos, Videos und Audiobeiträge unter "WikiCommons" verfügbar gemacht. Alle Materialien unterliegen einer freien Software-Lizenz und können mit Quellenangabe beliebig weiter verwendet werden, ohne dass ein Urheberrechtskonflikt entstünde.
Die Teilnehmer an Wikipedia - insgesamt fast 100.000, von denen übrigens bloß zwei Prozent über 73 Prozent der Beiträge verfassen - sind fasziniert von der Vorstellung, eine freie und unabhängige Wissens-
allmende zu unterstützen. Niemand wäre so altruistisch, seine Zeit für ein Projekt zu opfern, das nicht uneingeschränkt nicht-kommerziell und ehrenamtlich wäre. Die meisten Wikipedianer können sich ein Ende der Enzyklopädie schlecht vorstellen. Sie rechnen mit einem "Zeithorizont von Jahrzehnten".
Im Internet: http://
de.wikipedia.org