Es ist noch nicht so lange her, dass der Begriff der Bürgerlichkeit passé zu sein schien. In der frühen Bundesrepublik erkannte der Soziologe Helmut Schelsky eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", die sich konsumorientiert von den traditionellen bildungsbürgerlichen Werten entfernt hatte. Mit dem NS-Regime schien das Bürgertum als eigene Klasse verschwunden zu sein. Die 68er hingegen machten noch einmal die überkommene "bürgerliche Ideologie" für alle Übel des "Spätkapitalismus" verantwortlich, war sie doch aus ihrer Sicht lediglich eine Vorstufe des Faschismus.
Bürgerlichkeit löste keine positiven Assoziationen aus. Im Gegenteil: Noch in der Ära Kohl assoziierte man damit den biedermeierlichen Spießbürger, der völlig apolitisch seinen Vorgarten pflegt. Erst seit kurzem besinnen sich sogar die Parteien der politischen Linken auf die bürgerliche Zivilgesellschaft, wie es heute heißt, um über den aktiven Bürger und seine Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft neu nachzudenken. Die Rückkehr der Bürgerlichkeit geht einher mit der gegenwärtigen Krise des Wohlfahrtsstaats, der gezwungen ist, immer mehr Verantwortung auf seine Bürger abzuwälzen. Dazu ist es nicht unklug, diese erst einmal stark zu reden.
Die Historiker Manfred Hettling und Bernd Ullrich haben einen vielseitigen Band zusammengestellt, der die Wege des Bürgertums nach 1945 verfolgt. Bürgertum und Bürgerlichkeit, so darf man Hettling in seiner instruktiven Einleitung verstehen, avancierten zu Zentralbegriffen der liberalen Demokratie, denn damit ließen sich ein Habitus und ein spezifischer Lebensstil ebenso beschreiben wie ein demokratischer politischer Anspruch. "Wir sind alle Bürger dieser Bundesrepublik", äußerte Herbert Wehner bereits 1961: "Die Frontstellung hier bürgerlich, da was anderes, wird es nicht mehr geben."
Dass die SPD im selben Jahr unter der eher bourgeoisen Parole "Wohlstand ist für alle da!" in den Bundestagswahlkampf zog, ist eine Preziose, die zur Dehnbarkeit dieses Integrationsbegriffs passt. "Bürgertum gründete sich auf mehr als große Vermögen und feine Unterschiede", wie man Hettling folgen darf. Nicht nur das alte aristotelische Ideal einer Bürgergesellschaft "mittlerer Existenzen", sondern auch die Anlehnung an die republikanische Tradition des engagierten Bürgers begleitete die Entwicklung hin zu einer Liberalisierung in Westdeutschland.
Diese Liberalisierung geschah zögerlich, wie das Interview mit dem Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft Reinhart Koselleck (Jahrgang 1923) veranschaulicht. Die Erfahrung von Diktatur und Krieg ließ zunächst wenig Raum für bürgerlichen Idealismus: "Kritik und Krise" waren beim jungen Koselleck noch gleichursprünglich mit dem Liberalismus. Auch der konservativ-revolutionäre Soziologe Hans Freyer, dem Ulrich Bielefeld einen Beitrag widmet, sah die Realität der Industriegesellschaft pessimistisch. In ihr konnte er nur den Untergang des Bürgerlichen entdecken.
Heinz Bude blickt gewohnt souverän auf die "Bürgertumsgenerationen", die die Arbeitsgesellschaft der Wirtschaftswunderrepublik langsam abgelöst hat, während Wolfgang Kraushaar noch einmal die antibürgerliche Bürgerlichkeit der 68er in all ihren Aporien vorführt. Andere Beiträge widmen sich aus sozialhistorischer Perspektive dem Bremer Stadtbürgertum (Bernd Ulrich), dem Konsumbürger (Michael Wildt), dem Bürger in Uniform (Klaus Naumann) und dem Bürgertum in der DDR (Thomas Großbölting und Günther Wirth).
Insgesamt ist ein gut lesbares Kompendium entstanden, das die Historisierung der alten Bundesrepublik weiter vorantreibt und dabei originelle Perspektiven eröffnet. Es zeigt gleichzeitig die Lücken an, die in der Bürgerlichkeitsforschung der Bundesrepublik weiterhin klaffen. Gern würde man in zukünftigen Projekten dieser Art etwas über die Bürgerlichkeit in den Parteien, über die liberal-bürgerliche Publizistik oder aber über politisch-philosophische Konzeptionen liberaler Bürgerlichkeit lesen. Für zahlreiche Anstöße dazu haben die Herausgeber Hettling und Ulrich gesorgt.
Manfred Hettling / Bernd Ulrich (Hrsg.)
Bürgertum nach 1945.
Hamburger Edition, Hamburg 2005; 438 S., 35,– Euro