In den Jahren der deutschen Teilung war die Akademie wohl der zentrale Ort, an dem zwischen Ost und West neueste wissenschaftliche Erkenntnisse unbehindert ausgetauscht und diskutiert werden konnten. Älteren Teilnehmern ist bis heute die berühmt gewordene Sitzung aus den 70er-Jahren in Erinnerung, bei der die in der DDR bis dahin verfemte Kybernetik Eingang in das dortige wissenschaftliche Denken fand.
Ein wichtiges Instrument waren dabei die "Gaterslebener Begegnungen", sehr fachbezogene Kolloquien, auf denen in beispielhaft interdisziplinärer Weise Naturwissenschaften mit gesellschaftlichen Problemen zusammengeführt wurden. In den vergangenen Jahren standen immer wieder Fragestellungen, die sich aus der Anwendung der modernen Biowissenschaften ergeben, im Zentrum dieser Begegnungen. Doch erst im Jahre 2003 ging es grundsätzlich um unser Denken und Handeln - unser Bewahren und Verändern - im Kontext der biologischen und kulturellen Evolution. Insofern fasst der vorliegende Band alle früheren Tagungen zusammen.
In ihrer Einführung verdeutlicht Anna M. Wobus, mit welchem Anspruch der Dialog seitens der Naturwissenschaftler, insbesondere der Biologen, geführt wird: Wir fühlen uns, so die Genetikerin, "beidem verpflichtet, der Bewahrung der Schöpfung - der in der Evolution entstandenen biologischen Vielfalt -, aber auch dem Anspruch, dieses Potenzial verantwortungsvoll zum Wohle des Menschen einzusetzen und zu gestalten".
"Verantwortung" ist denn auch der zentrale Begriff, der die Begegnung von Vertretern unterschiedlichster Disziplinen verbindet. Doch in den Diskussionen wird immer wieder auch die übliche Lagerbildung deutlich: Hier der sich immer noch beschleunigende Fortschritt in den Naturwissenschaften, der offensive bis aggressive Züge trägt und stets zum Handeln drängt; dort die eher unfreiwillig defensiven Geisteswissenschaften, zumeist so genannte Bedenkenträger, die sich einer Kultur der Reflexion verpflichtet fühlen.
Doch der Schein trügt: Jene Glaubwürdigkeitskrise, die so viele Bereiche der Gesellschaft erfasst hat, bedrängt längst auch die Naturwissenschaften. Denn das Misstrauen wächst, wenn Forschungsergebnisse zur Anwendung kommen, noch bevor weite Teile der Öffentlichkeit überhaupt deren Inhalt und Tragweite begriffen haben. Zudem reift die Erkenntnis, dass Verheißungen gelegentlich ins Unheil umschlagen können.
Im Kapitel "Ethische Dimensionen" warnt daher der evangelische Theologe Klaus Tanner - ehemals Mitglied der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages - zu Recht vor der weiterhin anwachsenden Asymmetrie zwischen unserem technischen Fortschritt und unseren nachhinkenden moralischen Fähigkeiten. Diesem "äußeren" Machtzuwachs durch Technik kann nur durch verstärkte "kulturelle Anstrengungen" begegnet werden. Vor allem durch Bildung - denn nur diese befähigt den Menschen, mit seinen neuen Möglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen.
Der Humangenetiker Peter Propping kann im Kapitel "Von der biologischen und kulturellen Evolution" vorerst die Sorge zerstreuen, dass die Biotechnologie die Evolution des Menschen entscheidend beeinflussen könnte. Jenes Szenarium vom "Designer-Kind" lässt sich wohl niemals in die Praxis umsetzen.
Der Fortschritt gefährdet also weniger die biologische Evolution des Menschen, sondern vielmehr unser Menschenbild. Und angesichts der Tatsache, dass die Biowissenschaften mehr oder weniger eine fortschreitende Instrumentalisierung menschlichen Lebens ins Kalkül nehmen, weist die Dramaturgin und Schriftstellerin Helga Schütz in ihrer "Anfrage an Wissenschaftler" zu Recht darauf hin, dass im Blick auf die Wissenschaftsgeschichte mehr Bescheidenheit bei der Wahrnehmung gegenwärtiger Erfolge angesagt ist. Denn "Fortschritt definiert sich durch das Voran vom alten zum neuen Irrtum".
Doch die Weichen sind längst gestellt, wie der Biologe Konrad Bachmann in seinem Beitrag "Evolution und Information" hervorhebt: "Es lässt sich sicher nicht verhindern, dass wir in Bälde den ersten Roboter haben werden, der sich selbst nachbauen kann." Der individuelle Informationsfluss, so wie wir ihn heute noch kennen, wird sich eines gar nicht einmal so fernen Tages von der Weitergabe lebendiger genetischer Information vollständig emanzipiert haben.
Gipfelt die kulturelle Evolution also im kollektiven Selbstmord - in der Selbstabschaffung des Menschen? Davor bewahrt uns vielleicht der bemerkenswerte Umstand, dass wir Menschen "besonders emotionale Tiere" sind, die - so der Humanethologe Wulf Schiefenhövel - dazu neigen, Gefühle wie Liebe und Hass oder Trauer zu offenbaren. Mehr noch: Wir wollen unsere tiefsten Gefühle möglichst in Symbole übersetzen, um sie etwa in einem Kunstwerk noch mächtiger hervortreten lassen.
Wie das abschließende Rundtischgespräch zeigt, haben sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaftler vor allem den Künstlern einiges zu verdanken. Denn nur die Kunst ist in der Lage, ein vertieftes und umfassenderes Verständnis von der menschlichen Existenz zu vermitteln. "Die Kunst", so der bildende Künstler Peter Sylvester, "ist in jedem Fall ein Katalysator von menschlichen Empfindungen, die auf keine andere Weise wiedergegeben werden können".
Auch wenn die Autoren sich nicht immer bemühen, ihren Wissenschaftsjargon in eine verständliche Sprache zu überführen, vermag die Lektüre über weite Strecken zu fesseln. Zumal wenn beispielhaft vor Augen geführt wird, unter welch komplexen Bedingungen unser individuelles und auch gesellschaftliches Handeln sich jeweils im Spannungsfeld biologischer und kultureller Evolution bewegt.
Anna M. Wobus, Ulrich Wobus und Benno Parthier (Hrsg.)
Bewahren und Verändern im Kontext biologischer und kultureller Evolution.
Gaterslebener Begegnung 2003.
Nova Acta Leopoldina, Neue Folge, Band 90, Nr. 338.
Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle an der Saale 2004; 244 S., 29,95 Euro