Über Werte und Werteerziehung, über Werteverlust und Wertenihilismus wird seit Jahren nicht nur in Deutschland kontrovers und heftig diskutiert. Aber die Debatten kranken nicht selten an einer gewissen Unverbindlichkeit. So konnte man in einer kürzlich veröffentlichten erziehungswissenschaftlichen Dissertation den Schlusssatz lesen: "Dem Werteverlust und der Orientierungslosigkeit der heutigen Erwachsenen und weiter Teile der Jugend kann nur mit Erziehung zur kritischen Selbstreflexion, mit der Erziehung zur Mündigkeit entgegen gesteuert werden." Ist das ein pädagogisches Programm? Nein! Ist das eine richtige Diagnose? Nein, es ist eine Plattitüde.
Vor solchen wenig luziden Hintergründen greift man neugierig zu dem jüngsten Buch von Hermann Giesecke (Jahrgang 1932). Wer Gieseckes Bücher kennt, der weiß, dass er mit klaren, manchmal überspitzten und bewusst polarisierenden Positionen konfrontiert wird. So auch dieses Mal, wenn Giesecke Werteerziehung als Teil der umfassenderen Sozialerziehung diskutiert. Ein Credo des Autors lautet: "Leben ist lernen", und so beginnt er mit der Diskussion um die "Regeln des Lebens", um die Schwierigkeiten des Wertbildungsprozesses und das Erlernen von Normen, um anschließend seinen Lesern den Wertewandel im Lichte der empirischen Werteforschung und Pädagogik zu illustrieren und diesen im historischen Prozess zu diskutieren.
Überlegungen zur Wertepolitik und zu den Veränderungen im Generationsverhältnis folgen. Im Anschluss daran wendet sich Giesecke zwei Sozialisationsinstanzen zu, die in fast allen seinen Büchern eine zentrale Rolle spielen, nämlich der Familie und der Schule. Auch hier bleibt er seiner bekannten Perspektive treu. Er betrachtet die fraglichen Sachverhalte der Wertevermittlung und Sozialerziehung zunächst von unten, "nämlich aus der Perspektive von lernenden Individuen".
Werte, so Giesecke, sind eine hypothetische Konstruktion, die ein Kind in der Regel ohne Teilhabe der Pädagogen durch Sozialisation erlernt. Deshalb gelte es, zwei pädagogische Aufgaben, die gemeinhin als getrennt wahrgenommen werden, im Zusammenhang zu sehen: Sozialerziehung einerseits, Werteerziehung andererseits. Beide versteht er als "reflektierte Intervention in soziale Lernprozesse, die zu einem erheblichen Teil außerhalb pädagogischer Felder, Intentionen und Kompetenzen verlaufen".
Damit sollen Pädagogen nicht entlastet, aber doch Grenzen markiert werden, die den auf die Herstellung des "guten Menschen" zielenden Allmachtsphantasien Schranken setzen sollen. Konsequent diskutiert er deshalb im fünften und sechsten Kapitel die Chancen und Grenzen pädagogischer Einwirkungen auf den Wertbildungsprozess in Familie und Schule - stets im Bemühen, den Akzent hier auf pragmatische Hinweise für unterstützende Interventionen in den Wertbildungsprozess von Kindern und Jugendlichen zu legen.
Es zählt zu den Stärken des Buches, dass der Autor dabei nicht in das Genre der trivialen pädagogischen Ratgeberliteratur abgleitet, sondern sich die kritische Reflexion darüber erhält, dass das gut Gemeinte nicht immer schon das pädagogisch Erreichbare ist. Dieses Feld, so Giesecke pessimistisch, bleibt recht überschaubar.
Hermann Giesecke
Wie lernt man Werte?
Grundlagen der Sozialerziehung.
Juventa-Verlag, Weinheim/München 2005; 208 S., 13,- Euro