Fernsehserie und Buch behandeln einen bisher kaum oder überhaupt nicht berücksichtigten Aspekt in der jahrzehntelangen Vertreibungsdebatte und Forschung, nämlich die im Grunde naheliegende Fragestellung: Was geschah eigentlich, nachdem die Deutschen im Osten vertrieben wurden, nachdem sie ihre Häuser und ihre Heimat verlassen hatten? Wie haben sowjetische Besatzer und dann die zahlreichen russischen, polnischen und tschechischen Neusiedler in Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland die Vertreibung der Deutschen erlebt? Welches Schicksal hatten die verbliebenen Deutschen, die gezwungen wurden, Sprache und Identität aufzugeben und sich den neuen Lebensverhältnissen anzupassen?
Erstmalig wird für ein breiteres Publikum unerledigtes historisches Gepäck aus dem Kapitel Flucht und Vertreibung in der Nachkriegszeit geboten. Die erste wissenschaftliche Publikation, die für diese Fragestellung Material auswertet, war allerdings schon die vierbändige Edition des Herder--Instituts Marburg "Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 - 1950", erschienen in den Jahren von 2000 bis 2004, die amtliche Dokumentationen aus polnischen Archiven publiziert, die das Schicksal der Deutschen im polnischen Machtbereich beleuchten (vgl. "Das Parlament" vom 21. März 2005).
Die Autoren um Lachauer und Borodziej dokumentieren exemplarisch die Lebensgeschichten von vertriebenen und dagebliebenen Deutschen, neu angesiedelten Russen, Polen und Tschechen in Tollminkehmen in der heutigen Oblast Kaliningrad, in Groß-Döbern, nördlich von Oppeln an der Oder gelegen, sowie in Gablonz im Sudetenland. Die heutigen Ortsnamen können Karten entnommen werden, die - wie zahlreiche Fotos - als wertvolle Hilfe die Darstellung illustrieren.
Die drei Orte, die bis 1945 fast ausschließlich von Deutschen bewohnt waren, liegen heute in russischem, polnischem und tschechischem Hoheitsgebiet. Noch lebende Zeitzeugen schildern ihren deutschen Gesprächspartnern ihre persönlichen Erlebnisse, Empfindungen und Eindrücke seit Beendigung des Krieges. Es sind Neusiedler aus Russland, Polen und der CSSR sowie Deutsche, die in ihren Heimatgemeinden blieben oder bleiben mussten.
Heute sind sie - vielfach durch Eheschließung - nicht mehr deutsche Staatsbürger, sondern nur noch deutschstämmig. Viele verloren ihre ursprüngliche Identität. Es sind erschütternde Zeugnisse der Rechtlosigkeit und des Chaos, des Zerfalls einer häufig noch intakten Infrastruktur. Es ist kaum nachzuvollziehen, unter welchen Bedingungen diese daheimgebliebenen Deutschen jahrelang leben mussten. Sie traf voll die Rache und Vergeltung der Sieger als Antwort für die Verbrechen der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges; auch sie wurden Opfer des NS-Rassewahns. Hier wurde der Gedanke der Kollektivschuld praktiziert.
Es gab aber auch Zeichen von Hilfe und Solidarität etwa durch russische oder polnische Neusiedler, die häufig selbst Vertriebene aus Gebieten waren, in denen sich Grenzen verschoben hatten - etwa in Ostpolen. Aus Deutschland gab es nur Kontakte und Hilfe durch die Landsmannschaften. Für die neu angesiedelten Russen oder Polen hingegen war es die Begegnung mit einer fremden Kulturlandschaft, die im ersten Zeitabschnitt nach Kriegsende in allen Bereichen systematisch "entdeutscht" wurde.
Für Polen waren es urpolnische Gebiete, die 1945 wiedergewonnen wurden. Eine Geschichte vor 1945 gab es offiziell nicht - zumindest für die Neuankömmlinge; erst seit den 70er- und 80er-Jahren und vor allem seit der politischen Wende änderte sich diese Sichtweise allmählich.
Das drückt sich deutlich in den Beiträgen der polnischen, tschechischen und russischen Historiker aus. Sie sollten die jeweils deutsche Perspektive ergänzen: "Sie geben jedem der drei Ortsbilder einen entsprechenden geschichtlichen Rahmen, um verständlich zu machen, wo die Erinnerungen der Zeitzeugen typische Ereignisse wiedergeben und wo aus der Sicht des Historikers eher von Ausnahmefällen gesprochen werden muss."
Was hier in gemeinsamer Arbeit geleistet wurde, war bis vor wenigen Jahren noch undenkbar. Die Beiträge zeigen den heute erreichten Grad gemeinsamer Sichtweisen. Es ist ein Stück unaufgeregter Annäherung, ja Verständigung zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn. Das Buch bietet mehr als nur Begleittexte zur Fernsehdokumentation; es ist eine solide und durch Schilderung der Einzelschicksale fesselnde Darstellung, die Vorbild werden kann für weitere Arbeiten über diesen Aspekt von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung, der bisher fehlt.
Ulla Lauchauer, Adrian von Arburg, Wlodzimierz Borodziej
(Hrsg.)
Als die Deutschen weg waren.
Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland. Ein Buch zur WDR-Fernsehreihe.
Rowohlt Berlin, Berlin 2005; 317 S., 19,90 Euro