Externes State-Building, der Aufbau staatlicher Strukturen und Institutionen in multiethnischen Staaten, ist keineswegs ein besonders neues Phänomen. Die europäischen Kolonialmächte waren zumindest seit dem 19. Jahrhundert mit ethnischer Vielfalt in den Kolonien und Territorien unter ihrer Herrschaft konfrontiert. So wurde die Politik Österreich-Ungarns in Bosnien-Herzegowina zwischen 1878 und 1918 nicht unwesentlich durch dessen ethnische Vielfalt und wachsende Nationalbewegungen bestimmt. Der langjährige k.u.k.-Finanzminister und Verwalter Bosniens Benjamin von Kállay (1839 - 1903) verbot beispielsweise seine eigene "Geschichte der Serben" in einem Versuch, eine gemeinsame bosnische Identität aufzubauen.
Das vergangene Jahrzehnt hat dem externen State Building in multiethnischen Staaten jedoch eine bisher unbekannte Bedeutung gegeben. Von Bosnien, dessen Day-toner Friedensvertrag sich in 2005 zum zehnten Mal jährt, bis hin zu Kosovo, Afghanistan und Irak befinden sich multinationale Staaten unter direkter oder indirekter internationaler Verwaltung. Anders als die Friedensmission während des Kalten Krieges beschränkt sich internationale Intervention heute kaum auf die Stationierung von Blauhelmen entlang von Waffenstillstandslinien oder auf die Vermittlung von Friedensschlüssen. Stattdessen gestaltet sich internationale Intervention als umfassende militärische und zivile Präsenz, die zahlreiche Aspekte staatlicher Herrschaft übernimmt oder zumindest überwacht. Wie die Dauer der Mission in Bosnien belegt, handelt es sich hierbei auch nicht um kurzfristige Intervention, sondern um eine langanhaltende Präsenz. Aus diesem Grund fällt in der Kritik öfters der Vergleich mit der Kolonialära.
So bezeichnete die European Stability Initiative, ein führender Europäischer Think Tank in Südosteuropa, den Hohen Repräsentanten in Bosnien als einen Nachfolger des Britischen Raj in Indien. Die Protektorate der vergangenen zehn Jahre haben sicherlich ihre Parallelen zu den Kolonien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise die schweren Demokratiedefizite der internationalen Herrschaft und eine oft unbewusste "mission civilisatrice" der internationalen Verwalter. Zugleich überwiegen die Unterschiede: Die heutigen Protektorate und das Projekt des State-Building sind per Definition ein Provisorium. Ist das State-Buildings erfolgreich, endet die internationale Intervention. Die begrenzte Dauer - meist jedoch länger als erwartet - bringt auch erhebliche Einschränkungen mit sich. Die Intervention leidet oft an fehlender strategischer und personeller Kontinuität; und das Unwissen der internationalen Verwalter über das Land ist oftmals beschämend.
Die besondere Herausforderung des State-Buildings in multiethnischen Staaten jedoch liegt in der nationalen Vielfalt der Länder und Regionen. Bereits der oftmals verwandte Begriff Nation-Building ist in diesem Kontext verwirrend: Externe Intervention kann und sollte keine Nation aufbauen helfen, sondern einen Staat. Die sprachliche Kongruenz von Nation und Staat ist ein Hinweis auf die Fallstricke internationaler Intervention in multiethnischen Staaten.
Zunächst handelt es sich bei Bosnien, Afghanistan, Irak oder dem Kosovo nicht um Länder und Regionen, die "nur" multiethnisch sind - 90 Prozent aller Länder weltweit können als solche qualifiziert werden. Es handelt sich um Fälle, in denen Ethnizität politisiert ist und somit eine Dominante politische und gesellschaftliche Stellung einnimmt. Ursache für die Bedeutung von Ethnizität ist meist der Krieg, auf den internationale Intervention folgt. Politisierte Ethnizität ist jedoch kein Naturzustand und von gleichbleibender Bedeutung. Kurz, das Konfliktpotenzial der Ethnizität ist entscheidend, nicht die Identifikation mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe an sich. Anders als ideologische Konflikte oder zwischenstaatliche Kriege kann in ethnischen Konflikten weder eine Seite siegen, ohne dass die Folgen massive "ethnische Säuberungen" oder sogar Genozid wären, noch kann der Konflikt nur durch eine Waffenstillstandslinie langfristig beendet werden. Im Zentrum der Konflikte liegt die Frage der Kontrolle über den Staat und dessen Grenzen, oder, wie der Wirtschaftswissenschaftlers Vladmir Gligorov, Sohn des ehemaligen makedonischen Präsidenten, zu Beginn des Zerfalls Jugoslawiens erklärte: "Warum soll ich eine Minderheit in deinem Land sein, wenn du eine Minderheit in meinem Land sein kannst?"
Eine dauerhafte Konfliktlösung, wenn sie nicht neue Grenzen zieht, muss somit im Staat ein neues Gleichgewicht herstellen, sodass die verschiedenen Interessen berücksichtigt sind. Im Kern internationaler Intervention in multinationalen Staaten steht somit eine politische und institutionelle Neuordnung, die sich oft in neuen Verfassungen oder grundlegenden Verfassungsänderungen artikuliert.
Der dominante Ansatz im vergangenen Jahrzehnt in der Umgestaltung staatlicher Herrschaft in multinationalen Staaten ist "power-sharing", das heißt die Schaffung von Institutionen, die alle relevanten ethnischen Gruppen im Land repräsentieren, und zugleich Gruppen Vetorechte und weitreichende Selbstverwaltung einräumen.
"Power-sharing" verhindert somit, dass die Mehrheit die Minderheiten dominieren kann, was oftmals der Auslöser von ethnischen Konflikten ist. Dieses politische System ist eine Abkehr vom Nationalstaat, der eine Hierarchie zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen herstellt. Auch wenn sich ein System des "power-sharing" grundsätzlich von einem Nationalstaat unterscheidet, so teilen beide jedoch die Affirmation nationaler beziehungsweise ethnischer Identität als wichtigstes politisches Ordnungsprinzip.
Hier setzt die Kritik internationaler Intervention und von "power-sharing" in multinationalen Staaten an. Erstens institutionalisiert "power-sharing" ethnische Identität auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. Am Kriegsende ist Ethnizität generell stärker politisiert und polarisiert als in Friedenszeiten. Internationale Intervention schreibt somit oftmals Institutionen fest, die eine Dominanz ethnischer Identität über Demokratisierung festlegen. Quoten für verschiedene ethnische Gruppen und weitgehende territorial Autonome, meist erst durch Konflikt gewonnen, laufen Gefahr, neu entstandene Trennlinien zu konsolidieren. Institutionen und ihre internationalen Urheber mögen somit Konflikte beenden, laufen aber Gefahr, die Saat für den nächsten Krieg zu säen.
Die zweite Kritik externer Intervention zielt auf die undemokratischen Praktiken der internationalen Protektoren. Im Frühjahr 2005 kritisierte die Venediger Kommission, ein verfassungsrechtliches Beratungsgremium des Europarates, die Macht des Hohen Repräsentanten in Bosnien, Politiker und Beamte aus ihren Ämtern zu entfernen. Seit 1997 haben die verschiedenen Hohen Repräsentanten mehr als 180 Mal von diesem Recht Gebrauch gemacht. Ähnlich kann der Leiter der UN-Mission im Kosovo Gesetze per Dekret verabschieden. So oktroyierte 2001 Hans Haekkerup den gegenwärtige Verfassungsrahmen per Dekret.
Obwohl die Kritik an internationaler Intervention in multinationalen Staaten ihre Berechtigung hat, ist weder der pauschale Rückzug internationaler Akteure noch die Verbannung ethnischer Zugehörigkeit aus dem politischen Leben eine Alternative. Wenn die Interessen beispielsweise der Kurden im Irak, der Kroaten in Bosnien oder der Serben im Kosovo im institutionellen Gefüge der Staaten und Regionen unberücksichtigt bleiben, droht die Gefahr, dass das multiethnische Zusammenleben erneut scheitert.
Der Schlüssel zur erfolgreichen internationalen Intervention in multiethnischen Staaten ist nicht die Frage des "Ob", sondern des "Wie". State-Building in multiethnischen Staaten muss die ethnische Vielfalt und die kriegsbedingten interethnischen Spannungen berücksichtigen und zugleich den Staaten die Möglichkeit geben, langfristig die Bedeutung von Ethnizität in Staat und Institutionen zu reduzieren. Zugleich muss sich "power-sharing" mit demokratischen Garantien für Individuen das Gleichgewicht halten. Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe darf nicht die Voraussetzung für politisches Engagement oder den Genuss anderer Grundrechte sein.
Einfache Lösungen können diesem schwierigen Gleichgewicht keine Rechnung tragen, auch wenn der Ruf nach einem internationalen Abzug aus Bosnien, Kosovo oder Afghanistan oder die Forderung nach einer strikten Trennung von Staat und Ethnizität verlockend sind.
Ursachen für Konflikte in multinationalen Staaten sind meist diskriminierende und ineffiziente staatliche Strukturen und die manipulierbare Angst der Bevölkerung. Ohne langfristige und strategische Intervention und die Anerkennung ethnischer Unterschiede können weder die notwendigen rechtsstaatlichen Institutionen aufgebaut noch das Angstpotenzial abgebaut werden.
Dr. Florian Bieber ist am Europäisches Zentrum für
Minderheiten in Belgrad tätig.