Nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 auf die USA dehnte sich das Aufgabenfeld der NATO dramatisch weiter aus. Seither steht die weltweite Bekämpfung von Terroristen auf ihrer Agenda. Auch der Bundestag stimmte nach heftigen Debatten einer Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen im Rahmen der Bündnisverpflichtungen zu. Die Bundeswehr ist seit 1996 neben einigen kleineren UN-Mandaten im Kaukasus im großen Stile vor allem an NATO-Einsätzen auf dem Balkan, in Afrika und in Afghanistan beteiligt. Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) gab die inzwischen legendär gewordene Parole aus: "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt."
Wie sieht die neue Rolle der NATO nun speziell in den Einsatzgebieten Kosovo und Afghanistan aus? Dort geht es nicht um Kampfeinsätze. Friedensstiftende und friedenserhaltende Maßnahmen stehen im Vordergrund - wie die Unterstützung beim Aufbau von staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen als Voraussetzung für mehr Stabilität im Einsatzgebiet.
Den NATO-Alltag kennzeichnen somit humanitäre und ganz alltägliche militärische Aufgaben. Die Soldaten suchen täglich den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung als eine der wichtigsten vertrauensbildenden Maßnahmen vor Ort. Soldaten patrouillieren durch Dörfer und Städte, tauschen mit Bürgermeistern, Marktleuten und Geistlichen Informationen aus. Gleiches geschieht mit den Vertretern ziviler Einrichtungen und Hilfsorganisationen.
"Das Potenzial für gewaltsame Ausschreitungen ist hier wie dort subkutan vorhanden. Es ist erhöhte Wachsamkeit geboten, weil man weder im Kosovo noch in Afghanistan vor Überraschungen gefeit ist", beurteilt zum Beispiel der Stabs-Chef des NATO-Hauptquartiers im belgischen Mons, General Rainer Schuwirth, die Lage. Daraus leitet sich eine weitere Aufgabe für die Soldaten ab: polizeiliche Arbeit zur Friedenserzwingung.
Mit "Militärdiplomatie" umschreibt die Sicherheitsexpertin und Direktorin des German Marshall Fund der Vereinigten Staaten in Berlin, Constanze Stelzenmüller, einen Teil der Rolle der Allianz im Kosovo und in Afghanistan. Sie setzt "auf die Kraft des Wortes", auf Wendigkeit, geschicktes Verhandeln sowie Verlässlichkeit. Eine Rolle, die in ihrer Vielfalt kein NATO-Soldat während seiner Ausbildung je erlernt hat, deren Aneignung die Lage vor Ort jedoch gebietet.
Die Ausgangslage der Einsätze im Kosovo und in Afghanistan hatte mit Diplomatie wenig zu tun. Sie war bestimmt durch militärische Kampfhandlungen, nachdem alle politischen Versuche gescheitert waren. Im Kosovo liegt der Militärschlag bereits sechs Jahre zurück. Bei den NATO-Luftangriffen ging es unter anderem darum, die vom Völkermord bedrohte Albaner-Minderheit gegen die Serben zu schützen sowie die serbische Polizei und paramilitärische Organisationen zum Rückzug aus dem Kosovo zu zwingen. Hier konnte mittlerweile die Zahl der internationalen Soldaten von anfangs etwa 50.000 auf mittlerweile rund 17.000 gesenkt werden.
In Afghanistan zerschlugen die USA als Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 von Oktober 2001 bis Januar 2002 das fundamental-islamische Taliban-Regime, da dieses dem Terrornetzwerk Al-Qaida und seinem Drahtzieher Osama Bin Laden Schutz und Unterkunft gewährte. Auch Spezialeinheiten der Bundeswehr nahmen an der Jagd nach Bin Laden in Afghanistan teil. Außerdem übernahmen im August 2003 Truppen weiterer NATO-Länder sowie befreundeter Nationen der USA Einsatzaufgaben am Hindukusch. Dort wurde im Gegensatz zum Kosovo die Zahl der inernationalen Soldaten von anfangs rund 5.500 aus 32 Nationen auf mittlerweile rund 8.000 aus 47 Nationen aufgestockt.
Beobachtern leuchtete ein, dass die gewaltsam erwirkten Ziele nur bewahrt werden können, wenn die NATO in beiden Krisenregionen präsent bleibt und beim Aufbau von politischen sowie wirtschaftlichen Strukturen hilft. Daraus entwickelte sich für die Soldaten die neue Rolle in der Militärdiplomatie. Stelzenmüller hat in der nordafghanischen Handelsstadt Mazar-i-Sharif erlebt, wie die Soldaten mit ihren regelmäßigen Patrouillengängen "für eine erstaunliche Abküh- lung in einem früher äußerst angespannten und gewalttätigen Klima gesorgt haben", wie sie sagt. Ihrer Ansicht nach geht es in Afghanistan nicht nur darum, Opium- und Mohnfelder abzufackeln oder kämpfende Warlords voneinander zu trennen, sondern ein Netzwerk über das Land zu spannen. Um die Hauptstadt Kabul müsse ein Ring gelegt werden, mit kleinen Sttützpunkten von je 300 bis 400 Soldaten.
Maßgebliche NATO-Kreise sind sich einig: Vorherrschendes Kriterium bei der bevorstehenden Diskussion über eine Vergrößerung des internationalen Soldaten-Kontingents müsse sein: "Klasse statt Masse." General Schuwirth zum derzeitigen Stand: "Wir haben sowohl im Kosovo als auch in Afghanistan immer mehr Spezialisten für zivil-militärische Zusammenarbeit, Informationsarbeit, psychologische Arbeit. Dadurch haben wir den Anteil klassischer Kampftruppen etwas verringern können." Sollte es künftig allerdings zu einer Ausweitung des Engagements in Afghanistan kommen, werden seiner Meinung nach auch mehr Kampftruppen gebraucht.
Wichtige Arbeit leisten in Afghanistan die so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRT), die in einem Zusammenwirken von militärischen, humanitären und zivilen Kräften den Stabilisierungsprozess von Kabul aus ins weitflächige, gebirgige Binnenland vorantreiben sollen. Zwölf solcher Teams gibt es mittlerweile. Wie effektiv ihre Arbeit ist, hängt nach Stelzenmüllers Beobachtung nicht zuletzt von den politischen Kulturen der Mitglieder aus den jeweiligen Entsendeländer und ihrer Bereitschaft zur Zusammen- arbeit ab. "In Afghanistan hat sich Stabilität und sogar ein gewisser Wohlstandseffekt eingestellt, der allerdings sehr viel mit der Drogenwirtschaft zu tun hat - aber nicht nur", kritisiert die Sicherheitsexpertin.
Echte Bewährungsproben für den Grad der erreichten Stabilität stehen sowohl im Kosovo als auch in Afghanistan weiterhin bevor, wie die afghanischen Parlamentswahlen am 18. September zeigten. "Die Präsidentschaftswahl war weniger kontrovers, denn sie betraf die Machtbalance zwischen der Regierung und wenigen großen Warlords - und die haben sich mit dem neuen Regime und seinen westlichen Unterstützern abgefunden. Bei der Parlamentswahl dagegen ging es darum, wer in einer Region oder Stadt das Sagen hat. Da sind die Machtverhältnisse oft fragiler, und das Gewaltrisiko viel höher", urteilt Stelzenmüller.
An eine Renaissance des Taliban-Regimes glaubt sie indes nicht. Obwohl Afghanistan ein Land ist, in dem 99 Prozent der Bevölkerung streng gläubige und konservative Moslems sind, die aus westlicher Sicht in rigiden Sozialstrukturen leben, "war die Lebensfeindlichkeit der Taliban selbst den Konservativen zu viel".
Das Kosovo steht vor einer ähnlichen Herausforderung. Alle Hoffnungen der Kosovaren sind ebenfalls auf den Herbst gerichtet, wenn es darum geht, die politische Statusfrage der Provinz im ehemaligen Jugoslawien zu entscheiden. Ginge es nach ihnen, strebte die rund Zwei-Millionen-Einwohner-Provinz Unabhängigkeit an. Deshalb stehen schwierige Verhandlungen bevor. Denn manch einer der Verhandlungsführer wird sich wie Stelzenmüller fragen: "Ist ein Staat in einer Größe wie das Kosovo überhaupt lebensfähig?"
Die Bilder des Pogroms im Kosovo 2004 sind noch vielen gegenwärtig, als Albaner 19 Serben masskarierten. Auslöser für die Unruhen waren drei albanische Kinder, die in einem Fluss ertrunken waren. Die deutschen KFOR-Soldaten (Kosovo-Force) griffen nicht beherzt ein. Deshalb gelang es ihnen auch nicht, den Mob aufzuhalten. Nach Aussage von General Schuwirth hat das Bündnis Konsequenzen aus den Vorfällen gezogen: "Wir haben viele NATO-Nationen, die die bis dahin geltende Einsatzbeschränkungen ihrer nationalen Streitkräftekontingente aufgehoben haben. Sollte so etwas wieder passieren, ist der Kommandeur in der Lage, seine Truppen effektiver einzusetzen."
Die Einsätze im Kosovo und in Afghanistan offenbaren: Stabilisierung und Nation Building ist ein zähes Geschäft. Dennoch müsse es ein Ende geben, meint Stelzenmüller, "im Kosovo vielleicht schon bald. In Afghanistan kann es noch Jahre dauern." Schuwirth hingegen mag sich nicht festlegen. Auf jeden Fall müsse ein behutsamer Abzug in kleinen Schritten stattfinden, um die mühsam erreichten "enormen Fortschritte" am Ende nicht doch zu gefährden.
Almut Lüder arbeitet als freie Journalistin in
Berlin.