Nation Building, verstanden als die Schaffung einer Nation durch Staatsgewalt, erlangt ihre demokratische Berechtigung und ihre langfristige politische Stabilität erst durch die Schaffung von Gesetzen und rechtsstaatlichen Institutionen, die ausschließlich auf der Grundlage der Gesetze handeln und damit dazu beitragen, das geschriebene Recht zum gelebten zu machen. Dem Recht kommt beim Nation-Building in den postsowjetischen Staaten eine doppelte Funktion zu: Es soll zum einen die Grundlage und den Rahmen für eine demokratische Gesellschaft innerhalb eines rechtsstaatlichen Systems setzen, zum anderen soll es den Übergang von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft unterstützen.
Erst das Recht ermöglicht die Vorhersehbarkeit und Kontrolle staatlichen Handelns, das formelle Gleichberechtigung und Freiheit aller Menschen innerhalb festgesetzter Rahmen garantieren soll. Zur Umgestaltung des Wirtschaftssystems soll es beitragen, indem es günstige Rahmenbedingungen für den marktwirtschaftlichen Verkehr festlegt und ihre Umsetzung sichert. Hierfür reichen Reformgesetze - mögen sie qualitativ noch so hochwertig sein - alleine nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, neben der Verabschiedung angemessener Gesetze auch eine geeignete Infrastruktur von Gerichten, Behörden, Unternehmen und Interessenvertretungen zu schaffen, die dafür Sorge tragen, dass das Recht aktiv angewandt wird.
Doch auch gute Gesetze und rechtsstaatlich geschaffene und funktionierende Institutionen reichen für ein erfolgreiches Nation Building alleine nicht aus. Entscheidend ist vielmehr darüber hinaus, dass die in dem Staat lebenden Menschen, sich als eine gemeinsame Nation sehen und die ausgeübte Staatsgewalt als für sich verbindlich anerkennen. Dies beinhaltet zwangsläufig, dass sie ihre Rechte und Pflichten kennen, sich in ihrem Handeln daran orientieren und sich im Zweifelsfalle zur Aufklärung oder Streitentscheidung an die gesetzlich vorgesehenen Organe wenden. Genau an diesem notwendigen Bewusstsein und Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Strukturen fehlt es in allen postsowjetischen Staaten. Die meisten Menschen misstrauen den staatlichen Stellen und der Justiz zutiefst. Sie sind überzeugt, dass trotz aller Reformen, weiterhin die willkürlichen Interessen der jeweils Mächtigen das objektive Recht verdrängen. Die vollständige Umsetzung des Rechts und damit auch der Prozess des Nation-Buildings ist damit nachhaltig beeinträchtigt.
Doch bereits bei der Frage, wie das geschriebene Recht aussehen soll, gehen die postsowjetischen Staaten teilweise unterschiedliche Wege. Zwar sind sich alle darin einig, dass die Gesetze helfen sollen, die jeweiligen Staaten in den Weltmarkt zu integrieren. Doch in der Frage, wie umfassend modernisiert und wie stark mit sowjetischen Rechtstraditionen gebrochen werden soll, streiten sich die Geister. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die umfassende Zivilrechtskodifikation der 90er-Jahre in den postsowjetischen Staaten, die sich richtungsweisend für weitere Gesetze auswirkt und die wesentliche Grundlage für den Privatrechtsverkehr bietet. Während die Zivilgesetzbücher (ZGBs) der Russischen Föderation, Kasachstans, Usbekistans, Kirgistans, Tadschikistans, Weißrusslands und Armeniens ursprünglich als Übergangsgesetze konzipiert wurden und etliche Übergangs- regelungen übernommen haben, war das georgische ZGB mit seiner konsequenten marktwirtschaftlichen Orientierung Vorbild für die Zivilgesetzbücher Turkmenistans und der Mongolei.
Die unterschiedlichen Wege bei der Zivilrechtsgestaltung sind insbesondere bei der Schaffung des Zivilgesetzbuches der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" (GUS) diskutiert worden, das als Modellgesetz von der Interparlamentarischen Versammlung in St. Petersburg erarbeitet wurde. Diese Debatte hat zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze der Rechtsreform verdeutlicht, die sich auf das Nation Building auswirken. So haben die Befürworter der Übergangsregelungen, wie der russische Rechtswissenschaftler Makovsky betont, dass das Gesetzbuch spiegeln müsse, was im realen Leben passiere; für die Zukunft geschaffene Gesetze würden dementsprechend nicht funktionieren. Vertreter des "georgischen Experiments", allen voran der ehemalige Justizminister und spätere Präsident des Obersten Gerichts Georgiens, Lado Chanturia, stellten hingegen den Wert langfristig geltender Gesetze in den Vordergrund, da diese eine größere rechtliche Sicherheit und Widerspruchsfreiheit gewährleisteten und den anstehenden marktwirtschaftlichen Reformen besser gerecht würden.
Das Zivilgesetzbuch Georgiens gilt mittlerweile als Vorbild in anderen postsowjetischen Staaten, an denen sich sogar russische Reformer orientieren. Unter georgischen Juristen gilt das Zivilgesetzbuch als das einzige umfassende Reformgesetz, das wirklich funktioniert.
Dass sich nun ausgerechnet aus georgischen Regierungskreisen Stimmen vernehmen lassen, nach denen dieses von georgischen und deutschen Experten gemeinsam erarbeitete Prestigeobjekt sobald wie möglich reformiert werden soll, zeigt, mit welchen Schwierigkeiten die Rechtsreform in den jungen Staaten konfrontiert wird. Gerade weil das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung noch nicht tief verankert ist; gerade weil es noch keine starken rechtsstaatlichen Institutionen gibt; gerade weil sich die Justiz noch nicht gegenüber der exekutiven Gewalt behaupten kann, sind diese jungen Staaten anfällig für die politische Instrumentalisierung des Rechts. Hinter den Rufen nach grundlegender Reform des Zivilrechts in Georgien steht nicht nur das Streben der neuen georgischen Regierung, sich von allem zu verabschieden, was unter der vorherigen Regierung unter dem Staatspräsidenten Shewardnadze geschaffen wurde. Dahinter steht sicher auch der politische Wille, den neuen amerikanischen Verbündeten zu gefallen.
Seit der so genannten "Rosenrevolution" vom November 2003 zeichnet sich ein deutlicher Richtungswechsel in der georgischen Rechtsreform ab. So wurde beispielsweise mit der Verfassungsänderung im Februar 2004 das Jury-Gerichtssystem nach ameri- kanischem Vorbild eingeführt und die Rolle der Laienrichter im Justizverfahren gerstärkt. Diese Verfassungsänderungen wurden aufgrund politischen Drucks im Schnellverfahren vollzogen - gegen die Bedenken georgischer Juristen, nach deren Auffassung sich derartige anglo-amerikanische Rechtsmodelle kaum mit der georgischen Rechtstradition in Einklang bringen lassen würden. Auch würde die weitere Einführung von Laienrichtern und die Verdrängung der professionellen Rechtsprechung nach kontinental-europäischem Modell eine weitere Quelle für Korruption darstellen und das dringend benötigte Vertrauen der Bevölkerung in eine objektive, nur auf dem Gesetz beruhende Rechtsprechung behindern. Die Gründe für die stärkere Orientierung an dem anglo-amerikanischen Rechtssystem sind sicher mannigfaltig und hängen eng zusammen mit der politischen Entwicklung in Georgien sowie den strategischen Interessen der USA an der christlich geprägten Kaukasusrepublik, durch die Erdöl und Erdgas vom Kaspischen Meer in die Türkei fließt und nochmehr fließen soll.
Vor dem Hintergrund, dass etliche internationale Organisationen versuchen, die jungen Staaten bei ihrer Rechtsreform zu unterstützen, stellt sich die Frage, wie diese dazu beitragen können, das Recht und damit auch das Nation Building nicht zum Spielball kurzfristiger politischer Interessen des eigenen und fremder Staaten zu machen.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist aktiv am stabilen Nation Building beteiligt. Die OSZE verfolgt vor allem das Ziel, Sicherheit in der gesamten OSZE-Region, die alle postsowjetischen Staaten mitumfasst, zu schaffen. Dies soll nicht zuletzt durch die Stärkung demokratischer, rechtsstaatlicher Strukturen und der Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschehen. In diesem Rahmen ist sie auch bei der Rechtsberatung in den jeweiligen Ländern beteiligt.
Indem ihre Rechtsberater alle 55 Mitgliedsländer der OSZE vertreten, unter ihnen die USA, Russland und alle EU-Staaten, sind sie grundsätzlich über den Vorwurf erhaben, sie würden lediglich außenpolitische Interessen ihres jeweiligen Landes vertreten. Auch bietet die Beteiligung der OSZE an der Rechtsreform den Vorteil, dass sie die Beratungsleistungen zwischen verschiedenen nationalen Gebern koordinieren kann. Sie kann auf die Einhaltung internationaler OSZE-Verpflichtungen, die von allen Mitgliedsstaaten anerkannt wurden, pochen und sich im Zweifel an der Stärkung der Rechtssicherheit und Stabilität im Land orientieren, ohne auf bestimmte nationale Modelle Rücksicht nehmen zu müssen. Bei Verletzung der OSZE-Standards kann sie politischen Druck auf das jeweilige Mitglied ausüben. Dies geschieht generell in einem ersten Schritt über ihre Missionen in den Ländern, die in den süd-osteuropäischen, zentralasiatischen und kaukasischen Ländern bestehen. Helfen die bilateralen Gespräche oder Schreiben der OSZE-Mitarbeiter vor Ort nicht weiter, wird grundsätzlich der Permanente Rat in Wien mit Vertretern aus allen Mitgliedsstaaten informiert und, sofern für erforderlich gehalten, die Sache diskutiert und der Regelbrecher ermahnt.
Das stärkste politische Mittel der OSZE ist der Ausschluss des jeweiligen Mitglieds aus der internationalen Organisation. Mit dem Ausschluss wird dem Staat nicht nur die Durchsetzung seiner nationalen Interessen auf internationaler Ebene insgesamt erschwert, er verliert auch automatisch alle Begünstigungen, welche die OSZE dem Staat zur Schaffung stabiler Verhältnisse bietet. Hierzu gehören nicht nur Unterstützungen beim Aufbau demokratischer Institutionen und Stärkung der Menschenrechte, sondern auch wirtschaftliche Aufbauhilfen und politische Unterstützung in Krisensituationen und bei politischen Schwierigkeiten mit dem jeweiligen Nachbarstaat.
Allerdings sind alle Maßnahmen der Missionen in den Ländern an ihr einjähriges Mandat gekoppelt. Hierdurch werden langjährige Planungen erschwert. Eine reibungslose und an den Bedürfnissen orientierte Unterstützung wird ferner durch das Einstimmigkeitsprinzip der OSZE erschwert. So kann es passieren, wie Anfang 2005 geschehen, dass aufgrund des Vetos eines Mitglieds das Jahresbudget nur mit monatelangen Verzögerungen verabschiedet wird - mit negativen Auswirkungen auf die Durchführung von Unterstützungsmaßnahmen.
Diese Probleme haben bilaterale Rechtsberatungsorganisationen grundsätzlich nicht. So beschloss beispielsweise das Deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Dialog mit der GTZ als eines der ersten bilateralen Geber bereits Anfang der 90er-Jahre, die so genannten neuen Partnerländer im Osten bei der Rechtsreform langfristig zu unterstützen. Die GTZ startete ihr erstes überregionales Rechtberatungsprojekt für alle zentralasiatischen und kaukasischen Staaten mit einer Laufzeit von fünf Jahren. Das Projekt wurde seither jeweils um zwei Jahre weiter verlängert. Durch diese sehr lang Laufzeit konnte eine gewisse personelle und planungstechnische Kontinuität erreicht werden. Die Methodik des Projektes ist geprägt durch einen nachfrageorientierten Ansatz, hohe Expertise und dem Rechtsvergleich aus Erfahrungen in allen postsowjetischen Staaten. Im Rahmen des Projektes wurde ein Netzwerk aus Justiz, Verwaltung und wissenschaftlichen Instituten, zwischen den Partnerländern und Deutschland aufgebaut.
Mögen die Ansätze, Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten ausländischer Berater von internationalen und bilateralen Organisationen auch unterschiedlich sein, indem beispielsweise bei ersteren grundsätzlich der politische Aspekt, bei letzteren der technische Aspekt im Vordergrund steht, so lässt sich insgesamt doch feststellen, dass ausländische Berater sicherlich positiv auf den Rechtsreformprozess in den postsowjetischen Staaten einwirken können. Dies setzt jedoch voraus, dass das beratende Land ausländische Unterstützung wirklich will. Besteht dieser politische Wille, können ausländische Berater nicht nur ihr Wissen und ihre Erfahrung über Gesetzgebungstechnik einfließen lassen. Dies scheint besonders wichtig in postsowjetischen Staaten zu sein, da in diesen traditionell weniger Wert auf langfristig und objektiv auslegbare Gesetze gelegt wird, sondern Gesetze auch zur Umsetzung kurzfristiger politischer Interessen dienen sollen. Diesem Ziel entsprechend wurden und werden Gesetze oft so unbestimmt formuliert, dass sie willkürlichen Auslegungen Raum lassen. Dies wirkt sich kontraproduktiv auf die angestrebte Schaffung von Rechtssicherheit aus. Darüber hinaus kann ausländische Expertenmeinung und insbesondere der Hinweis auf internationale Standards dazu beitragen, Konflikte zwischen betroffenen Gruppen und Generationen zu neutralisieren. Schließlich hat sich gezeigt, dass ausländische Experten auch bei der Erarbeitung von Kompromissvorschlägen den Prozess positiv beeinflussen können. Eine solche Unterstützung setzt eine enge Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Partnerländern und ausländischen Beratern voraus.
Bei allen positiven Unterstützungsmöglichkeiten ausländischer Rechtsberater darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich ihre Aufgabe in einem hochsensiblen Politikbereich bewegt. Eine solche Beratung wirft grundlegende Fragen nach ihrer Legitimität auf. Die dabei zu treffenden Entscheidungen über das zukünftig geltende Recht fallen häufig in einen Bereich, der nach klassischem Demokratieverständnis der nationalen Souveränität vorbehalten sein sollte. Eine schlichte Übertragung von westlichen Rechtsmodellen verstieße nicht nur gegen den Souveränitätsgedanken, sondern wäre bei Nichtberücksichtigung der kulturellen Rechtstraditionen auch kaum erfolgversprechend.
Iris Muth ist Human Rights Officer der OSZE in Tiflis,
Georgien.