In Artikel 1 der bis heute gültigen Konvention über die Rechte und Pflichten eines Staates von Montevideo aus dem Jahre 1933 wird ein Staat folgendermaßen definiert: Er hat eine feste Bevölkerung, ein abgegrenztes Territorium, eine Regierung und ist zur Aufnahme und Unterhaltung von Beziehungen mit anderen Staaten in der Lage. Auf die "Staaten" Somalia, Haiti, Liberia und Bosnien-Herzegowina trifft diese Definition beispielsweise nicht zu: Diese Staaten gibt es bestenfalls in geografischen Grenzen und auf dem Papier. Bei weiteren 60 "Staaten" dieser Erde kann man die Montevideo-Definition ebenfalls nicht oder nur teilweise als erfüllt ansehen. Und dennoch zählen alle diese Länder zu den 191 Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind. Weltfremd? Nur, wenn man von der europäischen Variante des "Nationalstaates" ausgeht, eine wohl zunehmend überholte Definition des 19. und 20. Jahrhunderts, wie auch eine Reihe von Autoren in dieser Ausgabe feststellt.
In 30 Beiträgen analysiert ein internationales Autorenteam das Thema: Wie kommt es zum Staatszerfall, was passiert in Ländern, wo Staatsbildung - Nation-Building - betrieben wird; kritisch kommen die Einsätze von UNO, USA, EU und Deutschland auf den Prüfstand. Seit den 90er-Jahren beteiligen sich deutsche Regierungen an staatenbildenden Maßnahmen auf dem Balkan, in Afghanistan, aber auch in den gleichen Regionen, in denen sie seit 40 Jahren Entwick lungshilfe leisten. Da muss nachgefragt werden dürfen, warum bei all dem Aufwand dennoch tausende afrikanischer Flüchtlinge nach Norden drängen und an den Grenzen Europas stranden. "Sie leben, um Europa zu erreichen", stellt beispielsweise der portugiesische Schriftsteller und Journalist Paolo Moura fest, der durch seine ergreifenden Reportagen zum Flüchtlingsexperten avancierte. Flüchtlinge sehen die spanischen Exklaven in Marokko als Tor zu Europa. Es sollte niemanden wundern, dass trotz all der Milliarden an Entwicklungshilfe in den vergangenen vier Jahrzehnten eine beachtliche Zahl an Staaten südlich der Sahara immer noch strauchelt und ihren Bürgern nicht einmal die elementaren Rechte wie Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums gewährleisten kann, geschweige denn Arbeit, Wohnung, Heilfürsorge. In der amerikanischen Verfassung steht den Bürgern sogar das Recht zu, nach Glück zu streben (Pursuit of Happiness). Auch wenn dieses Recht verfassungsmäßig weltweit einmalig ist, träumt doch jeder Mensch letztendlich genau davon. Deshalb fehlt bei allem Enthusiasmus vieler Staatslenker für das Nation-Building in zerfallenden Staaten die wichtigste Hinterfragung: Wie kann man Staatszerfall eigentlich verhindern? Nicht erst seit diesem Sommer, als in Washington eine Liste der zerfallenden oder akut von Zerfall bedrohten Staaten veröffentlicht wurde, wissen wir, wo es brennt. Haiti zum Beispiel war seit seiner blutigen Loslösung von Frankreich vor 200 Jahren eigentlich noch nie ein Staat, der es wert gewesen wäre, ein solcher genannt zu werden; gleichzeitig aber sind die Haitianer das homogenste Volk südlich des Rio Grande. Oder Berg-Karabach im Kaukasus: Diese Region darf sich nicht Staat nennen, erfüllt aber alle Kriterien der Montevideo-Defintion. Wobei die Völkerrechtler von 1933 in Artikel 3 der Konvention von Montevideo auch explizit festgestellt haben: "Die politische Existenz eines Staates hängt nicht von der politischen Anerkennung durch andere Staaten ab." Es lohnt sich, dass die politschen Akteure darauf drängen, ein politisches "Tsunami-Frühwarnsystem" aufzubauen, das auf politische Beben in den bekannten Krisenregionen reagiert. Dieses Frühwarnsystem ist politisch wichtig und, offen gesagt, billiger. Insofern repräsentiert Nation-Building immer nur die zweitbeste Lösung, nicht nur für die jeweils unmittelbar betroffenen Völker.
Josef-Thomas Göller arbeitet als freier Journalist in
Berlin.