Nation-Building, damit war und ist kein Wahlkampf in den USA zu gewinnen. Und dass die Armee dafür da ist, Kriege zu führen, leuchtet den Wählern in Kansas oder Mississippi eher ein als der Hinweis darauf, dass es für die USA wichtig ist, in Somalia, Haiti, Bosnien oder im Kosovo mit eigenen Soldaten vertreten zu sein. In diesen Ländern hat die Regierung Clinton in den 90er-Jahren mit unterschiedlichem Erfolg interveniert und sich im Nation-Building versucht. Wobei nicht vergessen werden darf, dass Clinton im Jahr 1991 die Wahlen gegen einen außenpolitisch erfolgreichen Präsidenten mit einem fast ausschließlich auf Wirtschafts- und Innenpolitik konzentrierten Wahlkampf gewonnen hatte. Bush senior hatte für den Krieg gegen den Irak Anfang 1991 eine internationale Koalition zu Stande gebracht und sich erst gar nicht darauf eingelassen, das Regime von Saddam Hussein aus Badgad zu verjagen, was anschließendes Nation-Building unumgänglich gemacht hätte.
Von Bush senior sollte Bill Clinton zweierlei "erben", was seine spätere Politik des Nation-Building erst möglich machte. Zum einen war es Bush gelungen, die Implosion des Sowjetimperiums ohne größeren Schaden für den Rest der Welt friedlich abzufedern. Plötzlich war der Kalte Krieg zu Ende und die USA waren die einzige verbliebene Supermacht. Das eröffnete neue Möglichkeiten und Chancen, brachte aber auch Verpflichtungen mit sich. Das zweite Erbe, das Clinton von Bush senior übernehmen musste, war weniger erfreulich. Amerikanische Soldaten waren in Somalia stationiert. Was als Intervention aus humanitären Gründen begonnen hatte, entwickelte sich zum - unter dem Titel "Black Hawk Down" verfilmten - Beispiel dafür, wie gute Absichten nichts bewirken und Nation-Building schiefgehen kann. Das in Wash-ington beheimatete Forschungsinstitut Rand-Corporation hat in seiner Studie über Nation-Building Somalia wörtlich als "Tiefstpunkt" beschrieben und - damit dies nicht missverstanden werden kann - hinzugefügt: "Alles, was schiefgehen kann, ging schief."
Der Rückzug der amerikanischen Truppen im Jahr 1994 war nicht mehr und nicht weniger als das Eingeständnis des Scheiterns. Jedenfalls war nicht erreicht, was die Rand-Corporation als Ziel von Nation-Building definiert, nämlich den "dauerhaften Übergang zur Demokratie" zu schaffen. Doch das hielt die Regierung Clinton nicht davon ab, immer wieder - im Schnitt alle zwei Jahre, wie Statistiker ausgerechnet haben - den Versuch zu unternehmen, einer Nation auf die Beine zu helfen: Von Haiti über Bosnien bis zum Kosovo. Dass die USA im eigenen Hinterhof Haiti eingegriffen haben, lässt sich mit regionalpolitischen Interessen erklären, das Eingreifen im Herzen Europas nur mit europäischem Versagen. Die USA konnten sich diese Einsätze leisten, weil mit dem Ende des Kalten Krieges die automatische Konfrontation mit der Sowjetunion ebenfalls ein Ende hatte. Bis dahin war der Fall klar: Wo das weltpolitische Gleichgewicht ins Wanken geriet, war Intervention angesagt - unabhängig von der humanitären Bilanz des Regimes, das es zu stützen oder stürzen galt. In dieser Hinsicht boten die Clinton-Jahre den USA die Chance, sich als Supermacht des guten Willens zu präsentieren, die nicht nur dann eingreift, wenn ihre eigenen nationalen Interessen tangiert sind. Die "Clinton-Doktrin" brachte der Journalist Michael Kinsley im Jahr 2000 im Online-Magazin "slate" auf einen kurzen Nenner: "Die USA werden manchmal versuchen, humanitäre Katastrophen zu stoppen und Freiheit und Demokratie weltweit zu schützen." Die Betonung liegt auf den Worten "manchmal" und "versuchen", weil sie der US-Regierung die Freiheit geben, einzugreifen (Kosovo) oder auch nicht (Ruanda). Denn egal, wie sie handeln, müssen sich die USA gelegentlich schelten lassen: Für das Eingreifen oder das Nicht-Eingreifen. Aber mangels weltpolitischer Konkurrenz sind sie in ihrer Entscheidung weitgehend frei.
Immerhin hat die Regierung Clinton es nicht versäumt, das Nation-Building mit einer "Presidential Decision Directive" (Nummer 56 vom Mai 1997) wenigstens in groben Zügen zu regeln. Sie stellte den Rahmen auf, der zum Beispiel zwei Jahre später im Kosovo einigermaßen erfolgreich Anwendung fand. Unter dem Strich ist es der Regierung Clinton gelungen, sich als wohlmeinende und warmherzige Supermacht darzustellen, die Nation-Building auch dann betreibt, wenn es nicht im vordergründigen eigenen Interesse liegt. Dass sie dies gerne in Koalitionen mit anderen zusammen betreibt, spart Geld und dient dem Ansehen der USA.
Daran wollte die Regierung von George W. Bush ganz bewusst nicht anknüpfen. Was der Gouverneur von Texas im Jahr 2000 im Wahkampf formulierte, klang zum einen plausibel und zum anderen vage genug, um an die Realität angepasst zu werden. Wobei es George W. Bush durchaus abgenommen werden kann, dass er es ernst meinte, als er von außenpolitischer Bescheidenheit sprach, die den USA gut anstehe. Dass diese Bescheidenheit nicht unbedingt die Sache der Cheneys und Rumsfelds war, sei zugestanden, doch Bush traf mit seinem Isolationismus einen Nerv. Die Bürger der USA sind nicht übermäßig an der Welt interessiert. Das erklärt das Entsetzen und Erstaunen, als den USA am 11. September 2001 von einem Teil der Welt gewissermaßen die Tür eingetreten wurde. Diese Anschläge haben den USA in grausamer Brutalität klargemacht, dass sie es sich nicht leisten können, in friedlich-fröhlicher Isolation zu leben. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 realisierte die Regierung Bush, dass es für die USA eine ganz konkrete Bedeutung hat, in welchem Zustand sich andere Staaten befinden. Der Angriff auf Afghanistan im Oktober 2001 war nicht nur logisch, weil sich Osama bin Laden, der Al-Qaida-Chef und Hintermann der Anschläge, dort aufgehalten hatte, sondern auch, weil das Taliban-Regime das für Terroristen geradezu geschaffene Umfeld war. Und damit war die Regierung Bush nolens-volens beim Nation-Building angelangt. Nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus der realpolitischen Einsicht in die Notwendigkeit, nach dem militärischen Vorgehen gegen Afghanistan etwas zu tun, was den "dauerhaften Übergang zur Demokratie" sichert.
Damit befindet sich die Regierung Bush auf ähnlich unsicherem Gelände wie die Regierung Clinton, denn natürlich muss sie sich fragen lassen, warum sie im einen Fall eingreift und warum im anderen nicht. Wobei Bush offensiver als Clinton das Vorgehen seiner Regierung erklärt: Nicht erst in seiner Rede, als er im Januar 2005 auf den Stufen des Capitols zum zweiten Mal den Amtseid ablegte und das Verbreiten von Freiheit und Demokratie zum Programm machte. Bereits im Jahr 2003 sagte Bush wörtlich: "Nachdem wir Feinde besiegt haben, haben wir nicht Besatzungsarmeen zurückgelassen, sondern Verfassungen und Parlamente. Wir haben eine Atmosphäre der Sicherheit hergestellt, in der verantwortungsbewusste, reform-orientierte örtliche Führungspersönlichkeiten dauerhafte Institutionen der Freiheit aufbauen konnten. In Gesellschaften, in denen einst Faschismus und Militarismus gediehen, hat die Freiheit eine dauerhafte Heimat gefunden."
Ein schöneres Bekenntnis zum Nation-Building lässt sich kaum formulieren. Natürlich ist das kein Zufall, denn dem wenig umstrittenen Afghanistan-Krieg folgte der überaus umstrittene Irak-Krieg. Nicht zufällig knüpft Bush deshalb an den Zweiten Weltkrieg und an die erfolgreichen Beispiele Japan und Deutschland an, die von Kriegsgegnern zu demokratischen Partnern wurden. Die Frage lautet indes: Hat sich die einzige Supermacht damit übernommen? Die Rand-Corporation hat in ihrer Studie sieben Fälle von Nation-Building untersucht: Deutschland und Japan, Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo und Afghanistan. Auf einen kurzen Nenner gebracht lauten die Erkenntnisse:
Entscheidend für Erfolg oder Misserfolg der Mission ist der Einsatz von Truppen, Geld und Zeit, und zwar nach dem Motto: Je mehr, desto besser. Ein multilateraler Einsatz ist komplizierter, aber preiswerter für alle Beteiligten. Die Unterstützung der Nachbarstaaten ist unverzichtbar, soll Nation-Building erfolgreich sein. Schnelle Erfolge gibt es nicht. Erfolge in der Vergangenheit gab es nicht unter sieben Jahren Engagement.
So gesehen läßt sich momentan noch gar nicht sagen, ob den Bemühungen der Regierung Bush in Afghanistan und im Irak Erfolg beschieden sein wird. Gemessen an den Maßstäben der Rand-Coporation ist das finanzielle, personelle und zeitliche Engagement der USA in beiden Ländern auf alle Fälle zu gering. Doch diese Erkenntnisse werden die Realpolitik der Regierung Bush vermutlich nicht beeinflussen. Sie ist nicht aus freien Stücken beim Nation-Building gelandet, sondern wurde durch die Ereignisse zunächst in Afghanistan dazu gezwungen und hat dann im Irak Nation-Building zum Programm erklärt, nachdem Massenvernichtungswaffen nicht gefunden wurden und als Kriegsgrund wegfielen. Das ist der bemerkenswerte Wandel, den die Regierung Bush in ihrer Haltung zum Nation-Building durchgemacht hat. Von kühler Ablehnung über realpolitische Akzeptanz bis hin zu moralisch begründeter Befürwortung.
Robert Rotberg, Direktor des Programms für innerstaatliche Konflikte an der Kennedy-School in Harvard, geht sicher zu weit, wenn er meint: "Wenn es irgendwo auf der Welt eine ernsthafte Verletzung der Menschenrechte gibt, ist das eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten." Diesem Ansatz wird die Regierung Bush nicht folgen. Nicht die Menschenrechte motivieren sie zum Eingreifen, sondern die Sicherheitsinteressen der USA. Die Regierung Bush setzt auf einen positiven Domino-Effekt, wonach eine Demokratisierung des Irak positive Folgen für den gesamten Nahen Osten haben wird. Diese Einschätzung ist von einem hohem Maß an Pragmatismus geprägt. Die USA engagieren sich dort, wo das Engagement in amerikanischem Interesse liegt - und das ist nur plausibel.
Martin Wagner ist Korrespondent des Bayerischen Rundfunks in
Washington.