Der marode Zustand der öffentlichen Finanzen ist eine Geschichte für sich, die wiederum eine eigene Geschichte hat. Mit dieser beschäftigt sich Hans-Peter Ullmann in seinem neuen Buch. Er untersucht den langen Weg des deutschen Steuerstaates vom 18. Jahrhundert bis heute. Der literarische Pfad beginnt also bei einem vormodernen, überholten Finanzwesen, führt in die Geburtsphase moderner, öffentlicher Finanzen zur Umbruchszeit um 1800, begleitet ihre Entwicklung über Reich, Einzelstaaten und Kommunen bis zur Finanzierung des Ersten Weltkriegs, leitet dann weiter zu den "nationalen und internationalen Verteilungskonflikten der Nachkriegszeit" inklusive der Frage, "ob die Weimarer Republik den Steuerstaat überbürdete und damit die Große Depression entscheidend verschärfte", beleuchtet die Herrschafts- und Gewaltstrukturen des NS-Staates, dessen Machthaber den Zweiten Weltkrieg durch die Plünderung eroberter Gebiete geradezu "geräuschlos" finanzierten und schließt mit der Betrachtung der "Erweiterung des Staatskorridors" ab den 60er-Jahren mit ihrer Bedeutung für die heutige Krise des Steuerstaates.
Die Geschichte der öffentlichen Finanzen ist eine Geschichte von wachsenden Staatsausgaben: "Beanspruchte der öffentliche Bedarf am Ausgang des Ancien Régime vielleicht ein Zehntel des Sozialprodukts, absorbierte er an der Wende zu unserem Jahrhundert rund die Hälfte." Und mit dem Wachstum der Ausgaben veränderte sich auch ihr Charakter: "An der Wende vom 18. zum19. Jahrhundert dienten zwei Drittel dazu, die Staaten nach außen zu sichern und im Innern zu verwalten; das Übrige floss in Infrastruktur, Bildung und Soziales."
Heute ist es genau umgekehrt: "Zwei Drittel der Ausgaben entfielen auf Soziales, Bildung und Infrastruktur; Verwaltung und Militär teilen sich den Rest." Der Wandel vom "Militär-, Verwaltungs- und Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts" zum "Interventions-, Wohlfahrts- und Umverteilungsstaat des 20. Jahrhunderts" veränderte das Verhältnis von Markt und Staat. Eben dieses Verhältnis steht seither in der Diskussion mit der Kernfrage: Mehr Markt oder mehr Staat?
Die Geschichte der öffentlichen Finanzen ist auch eine Geschichte von wachsenden Staatseinnahmen. Zunächst dienten Erwerbseinkünfte aus Eisenbahn, Post, Industrie-, Versorgungs- und Kommunikationsunternehmen für Liquidität, doch im Zuge der Privatisierungen gewannen die Steuern an Bedeutung, vor allem als bereits um 1900 Einkommensteuern und im Ersten Weltkrieg Umsatzsteuern aufkamen.
Damit partizipierte der Staat an der ökonomischen Entwicklung und vergrößerte den Steueranteil an den Staatseinnahmen. Doch die wachsende Zahllast aus Steuern und Sozialabgaben, deren "Anteil seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts kräftig stieg", sorgte und sorgt bei den Steuerpflichtigen für Unmut: Der Staat griff zur Staatsverschuldung, der Zahler zu Schattenwirtschaft, Steuerflucht und Steuerhinterziehung. Wachsende Staatsschulden erweisen sich langfristig als Bumerang: "Nehmen Schulden rascher zu als das Sozialprodukt, engen sie den finanziellen Spielraum im Haushalt ein", werden zur immensen Last. Die staatliche Einnahmen-Ausgaben-Mechanik avanciert zum konjunkturpolitischen Instrument.
Heute steht der deutsche Steuerstaat auch mit Blick auf den EU-Stabilitätspakt vor seiner größten Herausforderung: Der Mix aus wachsenden Ausgaben, steigenden Steuern und hohen Schulden ist explosiv.
Schwaches Wirtschaftswachstum, Verlust von Arbeitsplätzen durch Automation in nahezu allen Bereichen und die demografische Entwicklung erhöhen den Druck auf die Finanzpolitik in nie dagewesener Weise. Doch das Ende des Steuerstaates will Ullmann nicht prognostizieren. Dennoch vermerkt er in seinem Schluss die vermehrten Anzeichen, dass die gute Zeit der Expansion des Steuerstaates zu Ende geht. Jede Geschichte hat eben ihr Ende. Ob es ein gutes werden wird, obliegt dem Urteil der Geschichte.
Hans-Peter Ullmann
Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute.
Verlag C.H.Beck, München 2005; 269 S., 14,90 Euro