Wie der Kanzler diese Blockade mit dem von ihm angestrebten "neuen Votum der Wähler" für seine rot-grüne Regierung beseitigen wollte, blieb indes ungeklärt: Gerade eine Bestätigung von Rot-Grün hätte die zumindest zahlenmäßige Ursache für die von ihm behauptete Blockade ja nicht beendet. Die unionsgeführten Länder hätten auch weiterhin eine deutliche Mehrheit im Bundesrat besessen. Dies gilt auch, wenn man die beiden großen Koalitionen unter CDU-Ministerpräsidenten (Sachsen und Schleswig-Holstein) aus dem "Block" der "Oppositionsländer" herausrechnet.
Oder hat der Kanzler insgeheim gar nicht mehr mit einer Mehrheit "seiner" Koalition gerechnet und vielmehr - in fast hellseherischer Vorausschau oder, angesichts der damaligen Wahlprognosen, großem Optimismus - auf eine weitere Beteiligung seiner Partei an der Regierung gesetzt, nur eben in einer Großen Koalition? In jedem Fall stehen die Signale mittlerweile auf Schwarz-Rot. Grund genug, sich einmal mit den möglichen Entwicklungen im Verhältnis von Bundesrat und Bundesregierung unter einer solchen Koalition zu beschäftigen.
Das erste, was angesichts optimistischer Kommentare über die Handlungsfreiheit jeder "Konstellation unter Führung oder Beteiligung der Union" (FAZ, 25. September 2005) im Bundesrat etwas überraschen mag, sind die Zahlenverhältnisse: Betrachtet man diese unter dem Aspekt "gleichgerichteter Mehrheiten" (also der Übereinstimmung der die Regierung stellenden parteipolitischen Mehrheit im Bundestag mit derjenigen im Bundesrat), so stellt man fest, dass eine Große Koalition nur über eine äußerst knappe Mehrheit verfügen würde. Den parteipolitisch identisch beziehungsweise teilidentisch zur Bundesregierung zusammengesetzten sogenannten "R-Ländern" (Bremen, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Sachsen, Bayern, Hessen, Hamburg, Thüringen und Saarland) mit zusammengerechnet 36 Bundesratsstimmen stünden zwar keine rein "oppositionellen" Länder mehr gegenüber (diese müssten sich aus sowohl ideologisch wie numerisch illusorischen Bündnissen aus FDP, Linkspartei und Bündnisgrünen zusammensetzen). Gleichwohl müsste sie eine Reihe von durchaus heterogenen "M-Ländern" (Länderregierungen, in denen sowohl Parteien der Bundestagsopposition wie der Regierungsmehrheit vertreten sind) in ihre Kalkulationen mit einbeziehen, wollte sie sich auf eine wirklich stabile Mehrheit stützen können. Zwar könnte man nun mit (Noch-)Kanzler Schröder sagen: "Mehrheit ist Mehrheit!" Und mit einer Stimme ließ sich schon in Konrad Adenauers erster Amtszeit trefflich regieren. Knappe Mehrheiten, so eine Erkenntnis der politikwissenschaftlichen Forschung, schweißen in Parlamenten bekanntlich eher zusammen, auch wenn dies, wie eben die Querelen des zweiten Kabinetts Schröder zeigen, bei entsprechendem Konfliktpotenzial keineswegs immer der Fall sein muss.
Umso mehr gilt dies aber für den Bundesrat, der ja eben kein Parlament (nicht einmal eine zweite Kammer) ist, auch wenn er an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt ist. Hier überlagern landespolitische Interessen häufig die parteipolitische Konsensfindung, auch wenn dieser Aspekt seitens der politischen Klasse wie ihrer Kommentatoren gern übersehen wird. Es ist ja auch viel einfacher, dem Bürger den Bundesrat als ein zweites, ebenso parteipolitisch dominiertes Organ wie den Bundestag darzustellen: Man braucht nur die Stimmen von "Opposition" und "Regierung" zusammenzurechnen und schon weiß man, wie die Abstimmungen ausgehen, ob die jeweilige Regierung mit "Blockade" rechnen muss oder "durchregieren" kann.
Allein, die Dinge sind nicht so, wie ebenfalls ausführliche Studien bewiesen haben. Zwar war eine Mehrheit "ihrer" Länder für die jeweilige Bundestags-opposition schon seit der sozial-liberalen Koalition stets eine große Verlockung, der Bundesregierung Knüppel zwischen die Beine zu werfen (oder, neutraler formuliert: Einfluss auf die Bundespolitik zu nehmen). Gleichwohl, funktioniert hat dies nicht immer, weder unter den Oppositionschefs Kohl und Strauß, noch unter dem damaligen SPD-Chef Lafontaine. Selbst scheinbar klare parteipolitische Blockaden wie die Verhinderung der letzten großen Steuerreform Helmut Kohls 1997/98 erweisen sich bei näherer Betrachtung, wie der Magdeburger Politikwissenschaftler Wolfgang Renzsch gezeigt hat, als durchaus von handfesten Länderinteressen beeinflusst. Überhaupt lässt das zentrale politische Instrument der Steuerpolitik die "Landesväter" ihre Eigenschaft als "Parteisöhne" nur allzu gern vergessen, wie die designierte Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Versuch, die rot-grüne Steuerreform 2000 mit Hilfe des "unionsgeführten" Bundesrates zu torpedieren, schmerzlich erkennen musste. Ebenso groß ist die Verlockung für parteipolitisch "regierungsnahe" Länder, bei knappen Mehrheitsverhältnissen eigenständige Landesinteressen zu vertreten - Franz Josef Strauß und Ernst Albrecht gaben in den 80er-Jahren dafür Zeugnis ab, wie nahe einem das landespolitische Hemd und wie fern dagegen die parteipolitische Jacke sein konnte. Nicht selten hatte sich Helmut Kohl in dieser Zeit, in der zum Teil nur ein Land das Zünglein an der Waage spielte, zähneknirschend landespolitischen Interessen seiner Parteifreunde in der Provinz beugen müssen. Genau dieser Situation sähe aber eine zu bildende Große Koalition in Berlin entgegen - einmal abgesehen von den im Vergleich zur damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition gewiss weitaus größeren Konfliktpotenzialen zwischen den beiden Regierungsparteien, die ebenfalls nicht abgeneigt sein könnten, das "Schwert des Bundesrates" zugunsten eigener Positionen in Koalitionsverhandlungen zu ziehen. Dies würde in diesem Fall natürlich besonders für die Union mit den fünf von ihr allein regierten Ländern (immerhin 21 Stimmen) gelten. Aber selbst das einmütige Zusammenstehen der beiden Großkoalitionäre vorausgesetzt, bliebe immer noch das Problem der knappen Mehrheit.
Bei den schon genannten "M"-Ländern hat man es mit einem sehr heterogenen "Block" zu tun, der daher eigentlich auch nicht als ein solcher betrachtet werden darf: Da sind zum einen die vier schwarz-gelb regierten Länder Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen (zusammen 22 Stimmen), dann die SPD/PDS-Koalition in Berlin (mit allerdings "nur" sieben Stimmen) und schließlich das seit langem sozial-liberale Rheinland-Pfalz mit seinen vier Bundesratsstimmen. Mindestens eines dieser Länder müsste eine Große Koalition im Einzelfall noch auf ihre Seiten bringen. Nur welches? Auf den ersten Blick mögen sich die CDU/FDP-Koalitionen anbieten, nicht nur aufgrund der Stimmenzahl, die sie einbringen könnten, sondern auch aufgrund ihrer Nähe zum Berliner Koalitionspartner CDU, was allerdings die SPD im koalitionsinternen Machtpoker nicht gerade erfreuen dürfte. Doch sollte man sich keinen Illusionen hingeben - Guido Westerwelles FDP wird sich auch auf Landesebene nicht allein aus Verbundenheit zum verhinderten Koalitionspartner im Bund zur Zustimmung zu großkoalitionär ausgehandelten Kompromissen bewegen lassen. Schließlich gilt es, Wahlen zu gewinnen, sowohl - alsbald - in den Ländern als auch - irgend eines (womöglich gar nicht so fernen?) Tages - im Bund. Und da bietet sich ein Schmusekurs mit Schwarz-Rot nicht immer an, sofern nicht handfeste landespolitische Gründe - in der Regel finanzieller Art - dafür sprechen.
Gleiches gilt für Kurt Becks liberalen Koalitionspartner in Mainz. Ihn zu gewinnen, dürfte nun für den sozialdemokratischen Teil der Berliner Regierung kein leichtes Unterfangen sein. Gänzlich unkalkulierbar und wohl kaum für die SPD nutzbar sind schließlich die rot-rot regierten Länder Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Waren sie bislang noch recht verlässliche Verbündete der alten rot-grünen Regierung, so dürfte die Linkspartei im Bund unter der kollegialen Führung Oskar Lafontaines und Gregor Gysis wenig Neigung zeigen, ihrer sozialdemokratischen Bruderpartei hilfreich zur Seite zu springen. So zeigt sich ein erstes Ergebnis: Das Kräftegleichgewicht innerhalb einer Großen Koalition dürfte sich unter dem Einfluss der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat in jedem Fall etwas deutlicher zugunsten der CDU neigen als zur SPD.
Aber es gibt auch andere, freilich kurzfristig kleinere Gefahren, die dem harmonischen Miteinander von Bundesregierung und Bundesrat drohen könnten: die Landtagswahlen. Bekanntlich, und auch das ist ein Ergebnis der Beobachtung von Wahlen unter Großen Koalitionen, werden in solchen Konstellationen die Oppositionsparteien links und rechts gewöhnlich gestärkt. Dies dürfte sich angesichts der Bedeutung der Bundespolitik für Landtagswahlen auch auf diese auswirken. Nun mag das für die relativ stabilen CDU- beziehungsweise SPD/FDP-Regierungen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz kein allzu großes Problem werden. Höchst fraglich ist allerdings, ob sich die CDU/FDP-Regierung Sachsen-Anhalts über den nächsten Wahltag im März 2006 wird hinausretten können, insbesondere, wenn man sich die Erfolge der Sozialdemokraten und Linkspartei bei der Bundestagswahl dort vor Augen führt. Was aber kommt dann? Eine weitere rot-rote Koalition erscheint durchaus im Bereich des Möglichen. Ebenso denkbar ist freilich, dass die Koalitionsparteien in Berlin eine gewisse Vorbildfunktion für die Länder ausüben, wie dies zu Zeiten der bisher einzigen Großen Koalition im Bund von 1966 bis 1969 der Fall war. So verfügte die damalige Große Koalition praktisch von ihrem Beginn im Dezember 1966 an bis zu ihrem Ende im Dezember 1969 über eine, wenn auch knappe, Mehrheit von einer Stimme im Bundesrat. Diese kam zustande, weil im Zuge der Großen Koalition in Bonn auch in Baden-Württemberg eine Koalition aus SPD und CDU gebildet wurde, die eine CDU/FDP-Regierung ablöste. Damals war das "Kräfteverhältnis" auf der R-Länder-Seite im Übrigen gerade umgekehrt: Diese setzten sich aus zwei SPD-regierten Ländern (7 Stimmen), zwei großen Koalitionen (10 Stimmen) und dem CSU-regierten Bayern (5 Stimmen) zusammen. Auch die damaligen M-Länder konnten die Waage nur unwesentlich zu Gunsten der CDU verändern: Drei CDU/FDP-Koalitionen (11 Stimmen) standen drei sozial-liberal regierte Länder (8 Stimmen, ausschließlich der damals nicht zu zählenden Stimmen Berlins) gegenüber.
Insgesamt waren die Zeiten aber angesichts einer nur aus der FDP bestehenden Opposition sicherlich leichter für die damaligen Großkoalitionäre. Inwieweit die Bundesregierung seinerzeit auf die Liberalen hatte Rücksicht nehmen müssen, beziehungsweise in welchem Ausmaß landespolitische Interessen Bonner Gesetzesvorhaben behinderten, harrt noch einer genaueren Untersuchung. Feststellen lässt sich nur, dass die Zahl der tatsächlich gescheiterten - also "total blo-ckierten" - Gesetze mit zwei sehr niedrig liegt. Zum Vergleich: In Zeiten divergierender Mehrheiten liegt diese Zahl zwischen sieben und elf Gesetzen. Beides zeigt, dass die messbare Blockadequote verschwindend gering ist, ohne dass dies freilich etwas über das Ausmaß des Einflusses der Oppositionsparteien oder gar die Qualität der verabschiedeten Gesetze aussagt. Viele Vorhaben der Regierung werden bei divergierenden Mehrheiten oder aus anderen Gründen zu erwartendem Widerstand in der Regel bereits im Vorfeld so "angepasst", dass ihr Erfolg im Bundesrat so wahrscheinlich wie möglich ist.
Um auf die eingangs gestellte Frage nach den Aussichten für ein Ende der von Bundeskanzler Schröder festgestellten Blockade zurückzukommen: Eine "Totalblockade", dass lässt sich zunächst einmal feststellen, hat es auch in der letzten Legislaturperiode nur in wenigen Fällen gegeben. In der Regel sind die meisten, auch die bedeutsameren Gesetze nach mehr oder weniger langen Verhandlungen von CDU und SPD einvernehmlich beschlossen worden (Arbeitsmarkt, Gesundheit, Zuwanderung). Das wird sich unter einer in Berlin regierenden Großen Koalition nicht wesentlich ändern. Die Zahl der gescheiterten Gesetze wird, wie zwischen 1967 und 1969, gegen null tendieren, ohne dass ein Scheitern aus landespolitischen oder länderübergreifenden Interessen völlig auszuschließen sein wird. Zu vermuten ist, dass der "Theaterdonner", mit dem die bisherigen Einigungen zwischen Bundesregierung und Bundesrat einher gingen, wohl deutlich leiser wird, in Abhängigkeit von anstehenden Wahlen, versteht sich. Im wahrsten Sinne des Wortes "unberechenbar" ist das Maß an Einfluss, das einzelne Länder und die Berliner Oppositionsparteien über ihre Landesregierungen auf die Regierungspolitik werden nehmen können. Ein "Durchregieren" wird aber unwahrscheinlich sein. Erhöhen ließe sich das Durchsetzungspotenzial der Bundesregierung allenfalls mit dem Abschluss der schon fast vollendeten Föderalismusreform. Für diese stehen die Chancen nunmehr deutlich besser.