Von der Radioquote ist nichts mehr zu hören. Noch vor einem Jahr machten sich Musiker und Plattenfirmen gemeinsam für einen festen Prozentanteil deutschsprachiger Musik im Rundfunk stark. Vorbild war Frankreich, wo seit Jahren einheimisches Liedgut zu 40 Prozent aus dem Äther schallt. Solcher Protektionismus gefiel vor allem deutschen Musikern. Lindenberg, Grönemeyer, Reinhard Mey - sie alle freuten sich bereits auf zusätzliche Tantiemen. Auch der Musikindustrie schien eine Quote angesichts des anhaltenden Booms junger deutscher Bands nur opportun. Allein die Rundfunkmacher hatten sich dagegen verwahrt, ihre Programmhoheit aufs Spiel zu setzen. Gute Musik, so lautete ihr Argument, überzeugt von selbst und wird entsprechend häufig gespielt.
Auch auf der diesjährigen Popkomm in Berlin, der größten Musikmesse Europas, war von einer Radioquote nicht mehr die Rede. Ein Indiz für die seit langem anhaltende Krisenstimmung in der Musikindus-trie. Erneut sind die Umsätze im ersten Halbjahr 2005 um neun Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückgegangen. Anders als in den vergangenen Jahren ist das Raubkopieren nicht mehr der Grund. Es gibt kaum noch Tauschbörsen. Die Drohgebärden der Musikindustrie haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Misere sitzt indess tiefer. Für die Branche, die gegenwärtig radikale Umwälzungen im Musikmassengeschäft erlebt, geht es ums Eingemachte. Ihr ist es inzwischen egal, woher die Gelder stammen - Hauptsache sie fließen überhaupt noch. Den Luxus einer patriotischen Selbstbeschneidung mag sich niemand mehr leisten.
Überdies ist das Radio kein Referenzmedium mehr. Im Einheitsbrei der rotierenden, immer gleichen Titel hat das Formatradio seinen Einfluss verspielt. Eine europaweite Studie des Marktforschungsinstituts Goldmedia zeigt, dass "kein direkter Zusammenhang zwischen Radioquoten und dem Verkauf von Tonträgern nationaler Künstler besteht". Hinzu kommt, dass musikalische Entdeckungen und ihre Distribution längst nicht mehr im Rundfunk geschehen. Das Internet spielt dagegen eine wichtige Rolle. Und genau dort sucht die Musikbranche jetzt ihr Heil. Lange hatte sie gebraucht, bis sie das Internet für sich entdeckte, aus Angst vor Raubkopierern. Jetzt will man sich keinen digitalen Cent mehr entgehen lassen. Nach den Download-Stationen wie iTunes und Musicload ist nun auch Mobile Music groß im Kommen. Songs werden dabei via Mobilfunk auf eigens dafür ausgestattete Handys geladen. Jetzt und nicht später: Wann immer man will, kann der spontane Kaufimpuls unmittelbar über den Äther befriedigt werden.
Die Konsequenzen aus dieser neuen Art von Distribution sind noch nicht abzusehen. Zum einen sind es wirtschaftliche Auswirkungen: In Zeiten, in denen Plattenriesen wie Universal 30 Prozent ihres Umsatzes mit Klingeltönen machen, liegt es nahe, im Download ein Riesengeschäft zu vermuten. Warner Music und Sony BMG wollen deshalb höhere Lizenzgebühren und somit höhere Preise in Apples virtuellem Musikladen iTunes Music Store verlangen. Es gibt Überlegungen, die Preise für aktuelle Songs von derzeit 99 Cents auf 1,49 pro Song zu erhöhen.
Bislang allerdings macht digitale Musik gerade einmal sechs Prozent am Gesamtumsatz der deutschen Branche aus. In Großbritannien dagegen geschehen schon annähernd 30 Prozent der Single-Verkäufe per Internet-Download. Zudem sollen bis 2008 etwa 85 Prozent aller Handys Musik herunterladen und abspielen können.
Hinzu kommt eine kulturelle Umwälzung. Wenn Songs einzeln herunterzuladen sind, braucht niemand mehr ein komplettes Album, das von Musikern in langwierigen und kostspieligen Schaffensperioden eingespielt wird. Dave Goldberg, Musikchef von Yahoo, hat dies erkannt, wenn er die "Playlist als Killer-Applikation" bezeichnet.
Playlists sind individuelle, oft stimmungsabhängige Zusammenstellungen von Musiktiteln für den MP3-Player. Darauf können sich beispielsweise "Party Hits", "Jazz-Tunes" oder "Golden Oldies" versammeln - ganz wie man mag. Vor diesem Hintergrund den Tod des Radios zu verkünden, liegt nahe. Goldberg glaubt, das Radio werde sich zu einem reinen Talk-Medium entwickeln - wie jetzt schon das Musikfernsehen.
Fragt sich bloß, wer dann noch Musiker promoten und sie zum Massenstar aufbauen soll? "Die Superstars werden verschwinden", prophezeit Goldberg. Seinen Glauben nimmt der Musikmanager aus beeindruckenden Zahlen, die Yahoo bei freier (kostenloser) Musik vorweisen kann. Neben Einzelsongs und einem Subskriptionsmodell bietet das größte amerikanische Download-Portal freie Songs an, die von Musikern gratis zur Verfügung gestellt werden - in der Hoffnung, größere Aufmerksamkeit durch Weiterempfehlung zu erzielen. Woche für Woche wechseln auf diese Weise bei Yahoo 300 Millionen freie Titel die Festplatten. Das sind keine Top-10-Hits, sondern Stücke von semiprofessionellen Musikern, die mit billiger digitaler Aufnahmetechnik außerhalb des Musiksystems im Heimstudio entstehen.
Ganz ähnliche Ziele verfolgt Tim Renner, ehemaliger Universal-Deutschland-Chef, mit der Gründung des Internet-Radios "Motor.fm". Dort wird ausschließlich alternative Musik von Bands gespielt, die bei einem unabhängigen Label gezeichnet haben oder noch gar keines vorweisen. Alle Songs können gegen ein Entgelt sofort heruntergeladen werden. Der Clou besteht darin, dass jeder Song weiterverkauft werden darf und man persönlich daran mitverdient. Hiervon versprechen sich Radiomacher wie Musiker ein sogenanntes "virales Marketing" durch persönliche Empfehlung im Freundeskreis. Von dieser außerordentlichen Zielgruppennähe träumt jede Werbekampagne. Weiterer Vorteil: Es bedarf tatsächlich keiner Superstars und teuren Distributionswege mehr, wie sie die traditionelle Musikindustrie errichtet hat.
Doch Internet hin, Handy her - gegenwärtig braust noch ein anderer Wind über die Musiklandschaft hinweg: der Boom der Konzerte. Warben Bands früher mit Konzerten für ihre Platten und CDs, verhält es sich heute genau umgekehrt: Die Tonträger wecken die Lust auf das Live-Erlebnis. Offenbar verlangen die Leute nach Künstlern und nicht nach digitaler Künstlichkeit, sie wollen aus ihrer Ohrstöpsel-Isolation heraus. Die Sehnsucht nach dem Echten und Einmaligen ist in Zeiten digitaler Reproduzierbarkeit anscheinend gestiegen. "Das Live-Erlebnis ist beim Publikum gut angekommen", bestätigt Jens Michow, Präsident des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft, "und ist von der allgemeinen Kaufzurückhaltung verschont geblieben". Freizeitforscher haben dafür den Begriff "Luxese" geprägt: Man leistet sich Luxus im Freizeitkonsum und übt Askese bei den Dingen des täglichen Bedarfs.