Das im Bundestag höchst umstrittene Recht auf Selbstauflösung ist in allen Verfassungen der deutschen Bundesländer verankert. Auch einige europäische Nachbarländer kennen entsprechende Bestimmungen. Zu Missbrauch oder Instabilität hat das Selbstauflösungsrecht bislang nirgendwo geführt.
Die deutschen Länderverfassungen sind ein Spiegelbild der regional sehr unterschiedlichen Überzeugungen: So pochen die Bayern schon in ihrem Grundgesetz auf das "staatsrechtliche Eigenleben" ihres Freistaats, während die Brandenburger es wichtiger fanden, die Vollbeschäftigung als Staatsziel festzuschreiben. Doch trotz aller Differenzen sind sich die 16 Landtage in einem Punkt einig: Sämtliche Verfassungen der deutschen Bundesländer kennen - anders als das Grundgesetz - ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments.
Elf Bundesländer verlangen dafür eine Zwei Drittel-Mehrheit. Teilweise wird zusätzlich gefordert, dass der Antrag zur Selbstauflösung von einem Drittel (Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Thüringen) oder zumindest einem Viertel (Hamburg) der Abgeordneten gestellt wird. In fünf Ländern (Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und Hessen) reicht für die Selbstauflösung sogar die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Landesparlaments (absolute Mehrheit).
Wo nur die absolute Mehrheit zur Selbstauflösung erforderlich ist, wurde dann auch besonders häufig von dem Recht Gebrauch gemacht. So hat sich die Hamburger Bürgerschaft in ihrer Geschichte bereits viermal selbst aufgelöst. Dennoch ist die Regelung in der Hansestadt unumstritten: "Es ist Konsens im Parlament, dass sich das Selbstauflösungsrecht bewährt hat", sagt Ulfert Kaphengst, Sprecher der Hamburger Bürgerschaft. Auch ein höheres Quorum hält er nicht für notwendig: "Selbst der Bürgermeister wird nur mit der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder der Bürgerschaft gewählt." Zudem sei die letzte Selbstauflösung im Jahr 2003 sogar einstimmig beschlossen wurden. "Alle waren sich einig, dass nach dem Zerfall der Schill-Fraktion in zwei Gruppen die Bürgerschaft nicht mehr beschlussfähig war." Die nach der Selbstauflösung festgesetzten Neuwahlen hätten dann zu einer stabilen Mehrheit geführt. Kaphengst hält das Auflösungsrecht auch deshalb für ein "wichtiges Selbstreinigungselement der Politik".
Ähnlich positiv wird die Regelung in Hessen gesehen, wo sich der Landtag bereits zweimal selbst auflöste. Zum ersten Mal im Jahr 1983, als sich nach den turnusmäßigen Neuwahlen keine mehrheitsfähige Regierung fand und ein zweites Mal im Jahr 1987, als sich das damalige rot-grüne Kabinett über die Atompolitik zerstritt. "Von dem ebenfalls in der hessischen Verfassung verankerten Misstrauensantrag wurde hingegen bislang noch nie Gebrauch gemacht", sagt der Sprecher des hessischen Landtages, Matthäus Friederich. Das Selbstauflösungsrecht ist seiner Ansicht nach "ein funktionierendes Element der hessischen Verfassung".
Insgesamt wurde in den deutschen Bundesländern nur rund ein Dutzend Mal von dem in allen Verfassungen verankerten Selbstauflösungsrecht Gebrauch gemacht. Und dies, obwohl einige Länderverfassungen sogar vorsehen, dass sich das jeweilige Parlament auch dann automatisch selbst auflöst, wenn die Regierungsbildung innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht erfolgreich abgeschlossen ist oder wenn es ein Volksentscheid fordert, so etwa in Bayern und Rheinland-Pfalz. "Bei keiner Selbstauflösung gibt es Hinweise auf einen Missbrauch der Vorschrift", sagt Angela Pohl von der Freien Universität Berlin, die zurzeit an einer Studie über das Selbstauflösungsrecht von Parlamenten arbeitet. Ursächlich für Selbstauflösungen seien regelmäßig Koalitionskrisen, wodurch es dann keine stabile Mehrheit im Parlament mehr gebe. Die auf die Selbstauflösungen folgenden Neuwahlen hätten das Problem dann meist gelöst. Zu einer dauerhaften Staatskrise sei es jedenfalls nirgendwo gekommen.
Dies gelte auch für das Selbstauflösungsrecht in den europäischen Nachbarstaaten der Bundesrepublik, wobei Angela Pohl betont, dass sich die Regelungen kaum vergleichen lassen: "Die einzelnen Regierungs- und Verfassungssysteme sind einfach zu unterschiedlich." Ein echtes Selbstauflösungsrecht kennen von den unmittelbaren Nachbarn der Bundesrepublik ohnehin nur Polen und Österreich. In beiden Ländern wurde davon bislang kaum Gebrauch gemacht.
In den meisten Ländern der Europäischen Union kann jedoch nur das jeweilige Staatsoberhaupt das Parlament auflösen. Dies ist an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft: In Italien muss zunächst eine Vertrauensabstimmung in beiden Parlamentskammern stattfinden. Tritt danach die Regierung zurück, kann der Staatspräsident Neuwahlen ansetzen.
In Frankreich ist dies dem Präsidenten sogar ohne vorherigen Rücktritt der Regierung möglich. Auch ein Antrag oder eine Zustimmung des Premierministers und Regierungschefs ist bei unseren französischen Nachbarn nicht notwendig. "Anders als das deutsche Staatsoberhaupt kann der französische Präsident so aktiv in das politische Geschehen eingreifen", sagt Angela Pohle.
Wesentlich schwächer ist die Position der Staatsoberhäupter in Spanien und Großbritannien. So kann der spanische König nur auf Vorschlag des Kabinetts das Parlament auflösen und muss dann gleichzeitig Neuwahlen ansetzen.
In England kann der jeweilige Premierminister die Königin jederzeit um Auflösung des Parlaments ersuchen und die Monarchin muss diesem Antrag Folge leisten. Ähnlich wie in Deutschland hat der Regierungschef eine starke Position, von der Tony Blair genauso wie Gerhard Schröder auch schon Gebrauch gemacht hat: Der englische Premier löste Anfang 2005 das Parlament vorzeitig auf und erlitt eine Wahlniederlage mit deutlich weniger Stimmen.