Die Ursachen von sozialer Gewalt und Krieg sind zu "einem nicht geringen Teil in einem versteckten Holocaust an Kindern zu suchen". So lautet die zentrale These des bekannten Psychohistorikers Lloyd deMause, dessen Buch "Hört ihr die Kinder weinen" vor einigen Jahrzehnten auch in Deutschland große Aufmerksamkeit fand. Kinder wurden in der Geschichte in unvorstellbarem Ausmaß "von ihren Eltern oder anderen Autoritätspersonen ermordet, gefesselt, ausgehungert, missbraucht ... und gequält, so dass sie zu emotional verkrüppelten Erwachsenen heranwuchsen, zu rachsüchtigen Zeitbomben, die ihre frühen Traumata in Opferriten, die man Kriege nennt, periodisch wieder aufführen".
Sozialen Veränderungen, insbesondere dem Verhältnis zu Gewalt, geht, so der Autor, stets ein Wandel in der Kindererziehung voraus. Er bezieht sich auf öffentliche und private Aussagen von Politikern, stützt sich aber auch auf Titelbilder von Zeitschriften, Fotos, Karikaturen, Cartoons und andere öffentlichkeitswirksame Bilder, um auf dieser Basis verdeckte kollektive emotionale Botschaften zu identifizieren.
Dieses Verfahren ist nicht nur legitim, sondern auch eindrucksvoll produktiv: Krieg wird - nicht erst seit der Französischen Revolution - häufig als gefährliche, blutrünstige Frau symbolisiert; die jeweiligen Kriegsgegner werden als blutsaugende Monster dargestellt; generell werden Kriege als Überlebenskämpfe um "Lebensraum" und "Atemraum" legitimiert.
Eine wichtige Rolle spielen jeweils Einkesselungsfantasien. Saddam Hussein wird in US-Karikaturen zu einer monströsen schrecklichen Mutter; NS-Opfer bekamen in der nationalsozialistischen Obsession und Bildpropaganda Merkmale "missratener" Kinder. "Böse Kinder" müssen bestraft oder gar ausgelöscht werden. Diese und zahlreiche andere Vorstellungen werden von deMause einleuchtend gedeutet. Andererseits führt der Autor den frühen beziehungsweise späten Einsatz der Industrialisierung in Japan und China auf unterschiedliche Erziehungspraktiken zurück. Demokratische oder terroristische Systeme hätten hier ebenfalls ihre Wurzeln. Soll man das ernst nehmen?
Einen Hauptteil des Buches bilden schockierende Studien zur Evolution der Kindererziehung - schier eine Enzyklopädie makabrer Praktiken der Kinderaussetzung, der Säuglingssterblichkeit, des massenhaften sexuellen Missbrauchs, des Schlagens und des Drills. Den Schlüssel für eine gerechtere und friedlichere Welt sieht deMause daher vor allem in einer veränderten Mutter-Tochter-Beziehung, um den Teufelskreis frühkindlicher Traumatisierungen zu durchbrechen. "Eine Welt, die ihre Kinder liebt, ihnen vertraut und sie zur Entwicklung einzigartiger Ichs ermutigt, würde eine Welt mit ganz anderen Institutionen sein, eine Welt ohne Kriege, Gefängnisse und andere herrschaftliche Gruppenfantasien."
Es ist ein kluges und weithin plausibel argumentierendes Werk, das Weltgeschichte und Politik nicht aus der Perspektive der Machthaber oder als Resultat ökonomischer Prozesse deutet, sondern nach dem kollektiven psychischen Hintergrund fragt und auch neurobiologische und medizinische Forschungsergebnisse integriert. Historiker bestrafen die Psychohistorie weithin mit Missachtung oder durch Ignorieren; deMause leistet dem allerdings auch umgekehrt und vermutlich unfreiwillig Vorschub, indem er nicht selten apodiktisch argumentiert. Für den psychohistorischen Ansatz ist das nicht förderlich, denn Gruppenfantasien oder kollektive Depressionen können durchaus eine geschichts- und politikmächtige Kraft darstellen. Dieses Werk breitet hierzu ebenso erdrückendes wie beklemmendes Material aus.
Lloyd deMause
Das emotionale Leben der Nationen.
Aus dem Amerikanischen von Christian Lackner.
Drava Verlag, Klagenfurt 2005; 383 S., 34,00 Euro