Im Frühjahr 1969, wenige Monate vor dem Ende der Legislaturperiode, war es mit der Harmonie zwischen den Partnern der ersten Großen Koalition auf Bundesebene endgültig vorbei. Die Konflikte zwischen Union und SPD häuften sich. Im Kabinett und im Koalitionsausschuss, dem"Kreßbronner Kreis", wurde viel geredet, aber wenig entschieden. Und der beginnende Wahlkampf verführte die Partner dazu, sich wieder stärker als Konkurrenten und Widersacher zu begreifen und den Ton in der öffentlichen Auseinandersetzung zu verschärfen.
Eine zunehmend gereizte Stimmung herrschte zwischen der SPD und der CSU. Willy Brandt, Bundesaußenminister und Parteichef der Sozialdemokraten, vermisste bei der bayerischen Unionsschwester und ihrem Vorsitzenden Franz Josef Strauß eine klare Abgrenzung zur rechtsradikalen NPD. Um Stimmen von Rechtsaußen zu gewinnen, so Brandts Vorwurf, pflege das CSU-Sprachrohr "Bayernkurier" eine ähnliche Diktion wie die Presseorgane der Extremisten. Als der Sozialdemokrat dann auch noch an die "Harzburger Front" zu Beginn der NS-Diktatur erinnerte, wertete dies die CSU als Schlag "unter die Gürtellinie".
CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Barzel bemühte sich, Brandt zum verbalen Einlenken zu bewegen. Aber der SPD-Chef und Vizekanzler blieb stur. Da griff SPD-Fraktionschef Helmut Schmidt ein. Er beriet sich mit seinem Unions-Kollegen Barzel, wie man den Streit entschärfen könne. Und prompt wurde auch eine Lösung gefunden. Schmidt lobte Strauß dafür, dass dieser beim CSU-Parteitag "das negative Verhältnis" zwischen seiner Partei und der NPD betont habe. Und Barzel konnte erklären, dass es der Koalition nichts bringe, einander schlecht zu machen.
Wieder einmal hatten sich Barzel und Schmidt, wie schon so oft zuvor, als Krisenmanager bewährt. Während Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt sich immer mehr entfremdeten und Finanzminister Strauß und sein Wirtschaftsressort-Kollege Karl Schiller ("Plisch und Plum") sich zerstritten, bildeten die Fraktionschefs ein starkes Gespann, das dem bröckelnden Zweckbündnis Halt gab und es vor einem vorzeitigen Ende bewahrte. Als Schlüsselfiguren der Koalition sorgten sie dafür, dass auch in der Spätphase der Regierungsarbeit noch Kompromisse zustande kamen.
Den Grundstein für ihr Vertrauensverhältnis hatten die beiden noch zur Kriegsgeneration gehörenden Männer bei einer Begegnung zu Beginn des Bündnisses gelegt. Schmidt, der 1966 das Amt des Verkehrsministers ausgeschlagen hatte, um stellvertretend für den schwer erkrankten Fritz Erler die SPD-Fraktion zu führen, stattete seinem Unions-Kollegen einen Besuch ab. Barzel, Jahrgang 1924, war zwar ein paar Jahre jünger als Schmidt, konnte aber mehr Dienstjahre vorweisen.
"Jetzt kommt es auf uns beide an", will der Christdemokrat damals erklärt haben. Und dann hat er, wie Chronisten berichten, noch gesagt, dass man sich unter intelligenten Leuten nur ein einziges Mal betrüge. Und dass man es deshalb von Anfang an besser bleiben lasse. Da habe Schmidt gelacht. "Und wir beide haben gemerkt", so Barzel, "dass Zuverlässigkeit das Wichtigste ist." Obwohl sie sich politisch über viele Jahre bekämpft hatten, verstanden sich beide überraschend gut. Der gebürtige Ostpreuße und der Hamburger hatten manches gemeinsam. Sie waren nüchtern denkende Pragmatiker mit ausgeprägtem Sinn für Fairness und der Fähigkeit zu schnellen und präzisen Entschlüssen. Beide kannten den Bonner Politikbetrieb und das parlamentarische Geschäft. So konnten sie dem Kanzler und den Ministern sagen, was sie in den jeweils eigenen Reihen für durchsetzbar hielten und was auf größere Widerstände stoßen würde. Und während andere Koalitionäre offen über Meinungsverschiedenheiten sprachen, pflegten die Fraktionschefs das vertrauliche Gespräch und räumten, wenn es schwierig wurde, Probleme geräuschlos aus dem Weg.
"Selbstverständlich müssen in einer Großen Koalition beide Parteien darauf achten, ihr eigenes Gesicht zu zeigen", hat Barzel damals gesagt. Aber er wusste ebenso wie Schmidt, dass es eines hohen Maßes an Kompromissfähigkeit bedarf, um im Bündnis zweier fast gleich starker Parteien eine produktive Regierungsarbeit zu leisten. In der parlamentarischen Praxis hielten sich beide Männer an dieselbe Definition. Kompromiss in einer Koalition bedeute "die möglichst gleichmäßige Verteilung von Unzufriedenheiten auf beiden Seiten". Mit dieser Formel gelang es Barzel und Schmidt, die widerstreitenden Interessen ihrer Fraktionen und Parteiflügel immer wieder auf Kurs zu bringen.
Barzel und Schmidt, der nach Erlers Tod 1967 auch formell den Chefposten übernahm, führten ihre Fraktionen straff, aber nicht autoritär. "Viele meinen, Demokratie bestehe aus endloser Debatte", erklärte seinerzeit der Sozialdemokrat. "Ich meine, Demokratie besteht aus Debatte und anschließender Entscheidung aufgrund der Debatte." Schmidt, so bescheinigte ihm dieser Tage sein einstiger Mitstreiter Hans Apel, habe stets dafür gesorgt, "dass die SPD-Fraktion eingebunden war und mitreden konnte".
Bei aller Unterstützung der Bundesregierung achteten sowohl Schmidt als auch Barzel an der Spitze selbstbewusster Fraktionen auch auf Distanz zum Kanzler und den Ministern. Sie begegneten damit der Gefahr, dass der Bundestag mit seiner damaligen Mini-Opposition der Freidemokraten zu einem langweiligen Verein von kritiklosen Abnickern wurde. "Schmidt und ich haben dafür gesorgt", so erinnert sich Barzel, "dass Leben in der Bude war. Auch bei Parlamentsdebatten."
Als SPD und Union nach der Bundestagswahl und der Bildung der sozial-liberalen Koalition 1969 wieder Gegner wurden, putzten manche der einstigen Bündnispartner ihre alten Feindbilder. Nicht so Rainer Barzel und Helmut Schmidt. Sie hielten an ihrer gegenseitigen Wertschätzung fest. "Eine Beziehung von Respekt und Vertrauen", nannte Barzel sein Verhältnis zu dem SPD-Kollegen und späteren Kanzler. Und auch Schmidt rühmte die Art ihrer Partnerschaft. "Keiner hat versucht, den anderen hinters Licht oder aufs Glatteis zu führen", versicherte Schmidt. Und: "Im Gegensatz zu vielem, was über ihn gesagt oder in Umlauf gebracht wird, habe ich in Barzel einen Mann kennen gelernt, der fair ist und zu seinem Wort steht."