Der Baltendeutsche Alfred Rosenberg gehörte 1945/46 zu den Angeklagten im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Er wurde dort zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet. Dabei war bereits damals klar, dass der "Parteiphilosoph" der NSDAP, was seine reale Machtstellung im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches betraf, keineswegs mit seinen Mitangeklagten Hermann Göring, Ernst Kaltenbrunner, Hans Frank oder etwa Albert Speer auf eine Stufe zu stellen war.
In der historischen Forschung wurde Rosenberg lange als zu vernachlässigende Größe abgetan. Zwar habe er zu den frühesten und einflussreichsten ideologischen Einflüsterern Adolf Hitlers gehört und diesem insbesondere die Wahnvorstellung vom "jüdischen Bolschewismus" eingepflanzt. Nach 1933 aber sei er schnell zur viel belächelten "komischen Nummer" des NS-Regimes geworden.
Gegen diese Sichtweise bezieht Ernst Piper in seiner Potsdamer Habilitation Stellung. Für ihn ist Rosenberg geradezu der "Gralshüter" der von ihm selbst definierten "reinen Lehre" des Nationalsozialismus. Den ideologischen Einfluss des gelernten Architekten auf den frühen Hitler veranschlagt der Autor noch höher, als dies bisher schon geschehen ist, ja setzt ihn nachgerade absolut.
Zwar treffe es zu, dass Rosenberg nach 1933 in der praktischen Politik meist eine eher klägliche Figur abgegeben habe. Auch habe er im ewigen Ränkespiel der NS-Größen untereinander eine verblüffend umständliche Ungeschicklichkeit an den Tag gelegt. Dass er von Hitler trotzdem in seinen Ämtern belassen worden sei, könne gleichwohl nur eines bedeuten: Der Diktator habe die "weltanschaulichen Verdienste" Rosenbergs außerordentlich hochgeschätzt und in allen wesentlichen ideologischen Fragen mit ihm übereingestimmt.
In einer auf "idealistische" Hingabebereitschaft abhebenden Rassenideologie, im Vernichtungsantisemitismus, im militanten Antibolschewismus und in unnachgiebiger Fronstellung gegenüber den Kirchen sieht Piper die zentralen Beiträge Rosenbergs zum Nationalsozialismus "als Idee". In der Tat waren dies auch die tragenden Pfeiler von "Hitlers Weltanschauung". Aber diese erschöpfte sich keineswegs darin, sondern ging zum Teil weit darüber hinaus. Die USA etwa, die bei Rosenberg kaum eine Rolle spielten, waren für Hitler ein ebenso bewunderter wie überaus gefürchteter zentraler Bezugspunkt in seiner machtpolitischen und rassenideologisch bestimmten Wahrnehmung. Dass Piper dies nicht sieht, lässt seine Schilderung der deutschen Außenpolitik insbesondere zwischen 1939 und Ende 1941 hinter den Stand der Forschung zurückfallen.
Auch sind die "modern" wirkenden Teile der hitlerschen Programmatik etwa in der Sozial-, Gesellschafts- oder der Technologiepolitik nicht mit so leichter Hand abzutun, wie es Piper tut. Dass selbst diese Ansätze der NS-Politik letztlich auch rassenideologisch motiviert waren, ist keine neue Erkenntnis. Sie aber deshalb einfach beiseite zu schieben, heißt - insoweit ist Götz Aly zuzustimmen - einen ganz wesentlichen Beweggrund für die große Loyalität der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Regime zu verfehlen.
Piper interpretiert Alfred Rosenberg aber nicht nur als den Mann, der Hitler die Ideen gab, sondern verlängert diese Sichtweise auch auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. Dies aber bedeutet, den Stellenwert Rosenbergs wohl doch zu hoch zu veranschlagen. Hitler war selbst sein eigener maßgebender Ideologe. Man denke an seine Ausführung in "Mein Kampf" zur Unterscheidung zwischen "Programmatiker" und "Politiker", wonach in wenigen "erlesenen" Momenten der Geschichte beide Funktionen ausnahmsweise auch einmal in einer Person verschmelzen könnten.
Viel Platz räumt Piper den verschiedenen, teilweise abstrus oder einfach lächerlich wirkenden "kulturpolitischen" Ambitionen Rosenbergs in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ein. Dabei wird aber eigentlich nur immer wieder deutlich, dass der verquaste "Parteiphilosoph" in der politischen Praxis in nahezu jeder Hinsicht eine Niete war.
Die Jahre zwischen 1941 und 1945, in denen die politische Karriere Rosenbergs mit seiner Ernennung zum "Reichsminister für die besetzten Ostgebiete" nominell ihren Höhepunkt erreichte, kommen demgegenüber deutlich zu kurz. Mag sein, dass dies auf die noch vergleichsweise unübersichtliche Quellenlage zurückzuführen ist. Weiterführend sind hier gleichwohl Pipers Ausführungen zur "Dekompositionsstrategie" Rosenbergs: Der Minister sei bestrebt gewesen, auf dem Territorium des Vielvölkerstaates Sowjetunion die nationalen Minderheiten, unter deutscher Oberhoheit versteht sich, gegen die dominierenden Russen in Stellung zu bringen. Allerdings habe er sich damit weder bei Hitler noch gegenüber seinen eigenen, nominell untergebenen Statthaltern durchsetzen können.
Der Stellenwert des "Parteiphilosophen" Rosenberg im Herrschaftsgefüge NS-Deutschlands wird von Piper neu ausgeleuchtet und erheblich differenziert. Das ist nur zu begrüßen. Wirklich Umwälzendes wird dabei allerdings nicht zutage gefördert. Und insgesamt überzeichnet der Autor die Rolle seines Protagonisten wohl doch ein wenig.
Ernst Piper
Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe.
Karl Blessing Verlag, München 2005; 831 S., 26,- Euro