Der Schriftsteller L. Frank Baum erzählt im "Zauberer von Oz" die Geschichte des Mädchens Dorothy, das wunschgemäß in ein Land jenseits des Regenbogens gelangt. Umgemünzt auf den Prozess der europäischen Integration könnte man die Geschichte so lesen: Dorothy (die Mitgliedstaaten der EU) verirrt sich fern der Heimat in ihrem lang ersehnten Ort (die Europäische Union). Nach einer langen und unwegsamen Reise weiß Dorothy schließlich, sich an die fremde Umgebung anzupassen, indem sie die magische Kraft ihrer neuen roten Schuhe entdeckt.
Dieser "Anpassung" wendet sich Matthias Zier zu. Er rückt die Frage nach dem Einfluss der Vergemeinschaftung auf die Institutionen der Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Er kann zeigen, dass die Verlagerung politischer und wirtschaftlicher Kompetenzen auf die EG beziehungsweise EU die Institutionen der Nationalstaaten nachhaltig verändert.
Unstrittig ist, dass es eine horizontale Machtverschiebung von der Legislative hin zur Exekutive gegeben hat. Das zeigt bereits der Anteil an transnationaler Rechtssetzung, welcher innerhalb der Mitgliedstaaten seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften beständig zugenommen hat. Mit dem damit verbundenen Zuwachs an Kompetenzen auf der europäischen Ebene gehen nahezu zwangsläufig ein Verlust nationaler Gesetzgebungsbefugnisse und eine "Abwertung" der Gesetzgebungsorgane einher.
Ziers Band ist insofern hochaktuell und zudem spannend zu lesen. In seiner empirisch und historisch-chronologisch aufgebauten Vergleichsstudie beleuchtet der Autor die parlamentarische, auf die Europapolitik der Regierungen in Deutschland, Österreich und Dänemark gerichtete Kontrolle. Damit stehen ein Gründungsmitglied, ein Teilnehmer der Erweiterung von 1973 und ein Angehöriger der Beitrittsrunde von 1995 im Mittelpunkt. Zier will den Gegebenheiten der einzelnen Länder gerecht werden, gleichwohl aber staatenübergreifend nach Möglichkeiten für verallgemeinerungsfähige Interpretationen suchen.
Im Kern der Betrachtung stehen die nationale Ebene sowie die institutionelle Anpassung, die auf ihr stattfindet. Zwar wird bis heute die Rolle des Europäischen Parlaments, sehr viel weniger aber die Rolle einzelstaatlicher Parlamente problematisiert. Deren legitimatorische Funktion wird oft genug als erfüllt vorausgesetzt. Zier löst sich von dieser starren Denkfigur und macht so die Rolle nationaler Parlamente im Mehrebenensystem einer empirischen Überprüfung zugänglich.
Dazu wird entlang der zentralen Regierungskonferenzen eine historisch-chronologische Einteilung in fünf einzelne Phasen vorgenommen. Für jede Phase wird die Fragestellung vergleichend erörtert, so dass der gesamte Prozess der Integration erfasst wird. Diese Vorgehensweise unterscheidet Ziers Untersuchung von bereits vorhandenen Studien, weil diese sich in aller Regel auf die Gegenwart und die nähere Vergangenheit beschränken.
Der Hauptteil der Arbeit widmet sich zwei zentralen Fragestellungen. Erstens: Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede weisen die Legislativen bei möglichem Funktionsverlust auf? Welche Institutionen schaffen sich die einzelnen Parlamente, um dem Integrationsprozess gerecht zu werden, wie werden diese genutzt oder nicht, modifiziert oder gar verworfen? Und zweitens: In welcher Art und Weise erfüllen die Parlamente ihre Aufgaben, und welchen Beitrag können sie zur Steuerung des politischen Prozesses noch leisten?
Man liest dieses Buch mit hohem Gewinn. Es besticht durch einprägsame, klare und angenehm bildhafte Sprache. Die materialreiche Arbeit liefert einen wichtigen Beitrag zur Erforschung nationaler Parlamente im Integrationsprozess der EU. Das Buch wird sowohl für den wissenschaftlich Arbeitenden als auch für den politischen Praktiker eine unerlässliche Quelle sein. Bleibt nur zu hoffen, dass der Prozess der europäischen Integration ein anderes Ende findet als der Zauberer von Oz. Dorothy entdeckt, dass es nirgends schöner ist als zu Hause und verlässt das Land jenseits des Regenbogens wieder.
Matthias Zier
Nationale Parlamente in der EU.
Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2005; 392 S., 39,90 Euro