Nach fünf Jahrzehnten literarischer Arbeit, in denen Wolf Jobst Siedler zehn Jahre lang als Feuilletonchef Zeitschriften und Zeitungen betreute, dann 20 Jahre für Ullstein und Propyläen tätig war und schließlich weitere 20 Jahre einen eigenen Verlag erfolgreich führte, blickt der nunmehr 80-Jährige nun auf eine Epoche zurück, die er schreibend begleitet hat.
In den 21 Aufsätzen und 17 Briefen wird sehr deutlich, welch großartiger Schriftsteller Siedler ist und wie umfassend seine Interessen, sein Wissen, seine Bildung sind. Der Untergang Preußens, der Verlust der Ostgebiete, die Bausünden der Nachkriegszeit, die Kommerzialisierungstendenzen des Kulturbetriebs, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die allmähliche Übernahme westlicher Werte im Osten - kaum ein historisches Großereignis, das er nicht scharfsinnig kommentiert und analysiert hat. Gleichfalls erhellend ist seine Korrespondenz mit Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser, Carl Zuckmayer, Friedrich Sieburg, Golo Mann oder Ernst Jünger. Es bestanden mit vielen der führenden deutschen Autoren enge persönliche Beziehungen; er hat sie teils verlegt, animiert, gefördert und entdeckt, teils aber auch ignoriert.
Deutlich wird dabei Siedlers überwiegend konservativ-elitäre Grundeinstellung. So bescheinigt er der Architektur der letzten 50 Jahre einen "Egalisierungs- und Plebejisierungsprozess", findet Gefallen an der von Friedrich Merz angestoßenen Idee einer "deutschen Leitkultur", nennt das neue Berlin eine "Weltstadt ohne Weltstädter", die eine der "hässlichsten Großstädte Europas" sei und beklagt ganz generell das geringe kulturelle Niveau, an das wir uns alle gewöhnt haben. Unumwunden räumt er ein, er sei Grass und Böll nicht sonderlich zugetan gewesen, habe dafür aber Axel Springer und dessen Verlag stets die Treue gehalten.
Anlass für die Zusammenstellung der Texte und Briefe dürfte auch die Sorge gewesen sein, wie etliche der einst hoch gelobten deutschen Nachkriegsautoren demnächst dem "Tod des Vergessens" anheimzufallen - trotz der 15 Werke, die er seit 1964 veröffentlicht hat und die auf der letzten Seite des Buches akribisch vermerkt sind. Vielleicht würden die Texte und Briefe jüngeren Lesern mehr bringen, wenn Siedler die einzelnen Beiträge in einer Einleitung historisch kurz eingeordnet und übersichtlich gegliedert hätte. Aber auch so hat der Rückblick auf ein halbes Jahrhundert deutscher Kulturgeschichte seinen Reiz.
Wolf Jobst Siedler: Wider den Strich gedacht. Siedler Verlag, München 2006; 256 S., 19,95 Euro
Thilo Castner arbeitet als freier Publizist im fränkischen Kalschreuth vorwiegend zu zeit- und kulturgeschichtlichen Themen.