Ein Dichter ist er nicht, und wer Einblick in eine irdische Seelenwanderung erwartet, wird - auf angenehme Weise - schnell enttäuscht. Die Erinnerungen des Freiherrn Friedrich-Wilhelm von Sell bleiben auf dem Boden der Tatsachen. Wer aber nun das nüchterne Selbstprotokoll eines Verwaltungsjuristen befürchtet, der nur sein Ablagesystem erklärt, wird ebenfalls enttäuscht und nicht minder angenehm. "Mehr Öffentlichkeit!" heißt der Titel, und diese Losung ist Programm.
"Frie-Wi", wie ihn seine Freunde später nennen dürfen, startet unter dem geschlossenen Himmel des preußischen Hochadels und greift nach den wichtigsten Entscheidungsetagen der Medienwelt. Vater Ulrich von Sell fungiert noch als Berater Kaiser Wilhelms II. im holländischen Exil. Man wohnt stilvoll und spricht mit gedämpfter Stimme in den Grünzonen von Berlin-Dahlem. Der Knabe bekommt einen Schülerplatz im Elite-Internat Salem am Bodensee.
Aber dies ist längst schon Idyll, denn bald sind die Nationalsozialisten an der Macht und betreiben die tiefste Selbstentwertung eines Volkes der überschaubaren Geschichte. Von Sell wird Soldat, ohne wirklich ins Feuer zu geraten. Behutsam schildert er kleine Aufstände gegen Gleichschaltung und Kommiss. Sein Vater kann der Gestapo nur knapp entkommen, um dann in einem sowjetischen Lager zu enden.
Es folgen die Abenteuer im Trümmerland der Nachkriegszeit und die Anfänge des Studiums. Als er von der Idee einer Freien Universität in Berlin erfährt, ist er sogleich zur Stelle, mitten in der Berlin-Blockade als "Hilfsassistent" seines Mentors Karl-Dietrich Bracher und in Nachbarschaft zum Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft, Friedrich Meinecke.
Seine Rundfunkkarriere beginnt in der Rechtsabteilung des Senders Freies Berlin (SFB). Dann heißt es "Auf nach Westdeutschland". Er erlebt die Gründungsphase des Deutschlandfunks, mit dem sich Konrad Adenauer trösten musste, als ihm das Bundesverfassungsgericht ein regierungsabhängiges Fernsehen verwehrt hatte. 1970 holt ihn WDR-Intendant Klaus von Bismarck als Verwaltungsdirektor ins Kölner Funkhaus. 1976 folgt er ihm (nach Kampfabstimmung im Verwaltungsrat) als Intendant.
Spätestens hier legt der Leser das Buch nicht mehr aus der Hand, denn nun wird es zur Enthüllungsgeschichte. Von Sell erlebt die robusten Versuche der Parteien, Einfluss auf Personal und Programm des Rundfunks zu nehmen, ferner den schwerfälligen Charme des föderalen Systems der ARD.
Ein Preuße in Köln? Intendant eines Senders voll anstrengender Creativos und selbstbewusster Territorialherren in den Direktionsbüros? Das Ganze eingebettet in den Mulch des rheinischen Klüngels? Das ist ein mühsames Dasein und kann auf Dauer nicht gut gehen, schon gar nicht, wenn einer tief im Innenohr das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonskirche hört! Der Neue hat ehrgeizige Projekte, stellt Weichen, lässt auch schon mal die Türen knallen. Aber von Sell hat keine Freude am Streit. Das liest sich aus der nonverbalen Gestik seines Textes. Über weite Strecken gerät das Buch zur Apologie eines Ritters ohne Furcht und Tadel; ein menschlicher Zug, denn so deutlich verteidigt nur jemand seine Entscheidungen, wenn er sie nicht ohne Selbstzweifel getroffen hat.
Schon als Verwaltungschef hatte von Sell gelegentlich das Wuchernde und Vegetative der Programmseite zu ertragen. Jetzt muss er es auch noch verantworten. Die Nachwehen der 68er-Revolte mit Bürgerinitiativen auf der einen und RAF-Terror auf der anderen Seite, dazwischen die Reformen der sozial-liberalen Koalition - all das führt in den Redaktionsstuben zu erhöhter Temperatur. Es gibt Sprünge, Brüche und Eruptionen. Aber es sind nicht nur "Rotfunker", die in Redakteursversammlungen erregt an die Mikrofone stürmen, sondern durchaus Leute mit Gespür für die Verlegenheits- und Verlogenheitszonen der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Sie kämpfen für den Erhalt der "Radiothek" oder schütteln die Köpfe, wenn die Abteilung "Kultur" des größten europäischen Senders nur noch als "Ferment" im Gesamtprogramm vorkommen soll, wo sie der Interessierte nicht findet und der Desinteressierte nicht bemerkt.
Auf der Haben-Spalte stehen Fernsehereignisse wie "Das Boot", "Holocaust" oder "Heimat". Von großer Bedeutung ist die Regionalisierung des Senders. Von Sell stellt wichtige Weichen in Vorahnung kommerzieller Konkurrenz, oft gegen ARD-Kollegen, die sich noch als Cäsaren eines unanfechtbaren Imperiums fühlen. 1985 tritt er vorzeitig zurück, entnervt durch "zuviel Öffentlichkeit". Aber 1989 ist wieder Gründerzeit. Er geht nach Potsdam und wird Intendant des ORB. Dem Abwicklungswahn des Herrn Mühlfenzl steht er einigermaßen fassungslos gegenüber.
"Mehr Öffentlichkeit" ist ein gut lesbares Buch. Die schnörkellose Sprache versöhnt mit der relativ geringen Tiefenschärfe. Der Leser kauft ein Stück Zeitgeschichte, gesehen durch ein Temperament.
Friedrich-Wilhelm von Sell: Mehr Öffentlichkeit! Erinnerungen. zu Klampen Verlag, Springe 2006; 254 S., 19,80 Euro
Ulrich Harbecke war viele Jahre Redakteur des WDR im Bereich Kultur und Wissenschaft.