Das Parlament: Herr Professor Hurrelmann, die Gesellschaft ist aufgeschreckt durch den Brandbrief der Neuköllner Rütli Schule. Wenn Sie Rektor oder Lehrer an einer entsprechenden Hauptschule wären, was würden Sie machen?
Hurrelmann: Ich würde auch so einen Brief schreiben. Das war ein Hilferuf. Das Kollegium hat dadurch öffentlich gemacht, dass sie an ihrer Schule Strukturen vorfinden, in denen sie den Kindern nichts mehr beibringen können und auch das soziale Miteinander nicht mehr funktioniert. Schön wäre es gewesen, wenn die Lehrer nicht erst so deutlich reagiert hätten, als sie schon am Ende ihres Lateins waren.
Das Parlament: Was läuft konkret falsch? Verhalten sich Pädagogen zu wenig konsequent, haben sie nicht mehr die nötige Autorität?
Hurrelmann: Die Autorität von Lehrern und Eltern ist nicht mehr wie früher eine Art Naturgesetz, sondern sie muss ständig neu erarbeitet werden. Der Lehrer muss seine Rolle, seine Autorität mit der jeweiligen Gruppe aushandeln und Regeln vorgeben. Das ist aber nicht das Problem der Lehrer allein, sondern das sind Prozesse, die sich in der ganzen Gesellschaft abspielen. Gleichwohl können wir nicht zu einer traditionellen, patriachischen und hierachischen Erziehungsform zurückkehren. Wir werden, wie andere Länder auch, eine Lehrerrolle anstreben müssen, bei der der Lehrer ein Verhandlungsführer ist und mit den Schülern gemeinsam nach Lösungen sucht.
Das Parlament: Aber vielleicht ist doch gerade die Autorität das, was den Schülern helfen würde?
Hurrelmann: In einer modernen Leistungs- und Dienstleistungsgesellschaft ist es nicht mehr so, dass eine Person das Sagen haben kann. Das alte autoritäre Bild passt nicht mehr zu unserer vielschichtigen, heterogenen Gesellschaft. Genauso wenig passt aber eine antiautoritäre Haltung. Das ist der große Trugschluss: Das Gegenteil von autoritärer Erziehung ist nicht antiautoritäre Erziehung. Die viel bessere Alternative ist eine autoritative Erziehung; eine Erziehung mit echter immer wieder erarbeiteter Autorität, mit Verhandlungen und Angeboten, aber eben auch mit einer klaren Struktur. Für die Lehrer heißt das, dass ihre gute Fachausbildung nicht mehr ausreicht, um ihnen per se Autorität zu verleihen. In der Lehrerausbildung und im Unterricht müssen stärker Komponenten des sozialen Lernens, das Beherrschen von Moderationstechniken, Menschenführung, Beeinflussung der Persönlichkeit im Vordergrund stehen. Mit der jetzigen Ausbildung sind Lehrer im Alltag überfordert.
Das Parlamen: Dann ist das Schulsystem veraltet...
Hurrelmann: Ja, das Schulsystem ist in der Sackgasse. Eindeutig. Dass die Hauptschule als letztes Auffangbecken fungiert und dort mittlerweile nur die Kinder sind, die es woanders nicht geschafft haben, ist schlecht. Wie der Name Hauptschule sagt, war sie ursprünglich die Schule, die die meisten Kinder besuchten. Mittlerweile sind auf der Hauptschule fast nur noch schwache Schüler, die sich gegenseitig runter ziehen und ohne berufliche Zukunft sind. Das ist eine brutale Botschaft, die die Schüler schon längst verstanden haben. Es gibt für sie keine Perspektive.
Das Parlament: Aber würde die Abschaffung der Hauptschulen aus dem Dilemma herausführen?
Hurrelmann: Ja, man sollte nur noch zwei Schulformen etablieren. Hauptschulen sollten mit Realschulen oder Gesamtschulen zusammen gelegt werden. Das Land Sachsen hat das gemacht. Die Lernerfolge sind sehr überzeugend. Zudem muss man die Schulen in Stadtbezirken mit vielen sozial benachteiligten Familien besonders gut ausstatten. Betrachtet man den demografischen Faktor, ist unsere Gesellschaft in zehn Jahren bitter darauf angewiesen, dass alle jungen Menschen gut ausgebildet sind.
Das Parlament: Viele Kinder an Hauptschulen in Großstädten sprechen kaum Deutsch. Die Werte in Migrantenfamilien sind anders als in deutschen Familien und auch untereinander bekriegen sich die Schüler bisweilen heftig, da sie die politischen Konflikte ihrer Ursprungsländer auf den Schulhof austragen.
Hurrelmann: An dem Beispiel der Rütli-Schule wird deutlich, dass wir es mit zwei Kulturen des Lebens zu tun haben, die einander sehr fremd sind. Unsere Vorstellungen von der Gesellschaft stehen konträr zu einer hierachisch, religiösen, traditionellen, muslimischen Kultur. Beide Kulturen müssen ernst genommen werden, aber es muss auch ganz klar sein, dass sich die Schüler auf die Gesellschaftsvorstellungen des Gastlandes - das ja auch oft ihre Heimat ist - einlassen müssen. Das fängt mit dem Sprechen von Deutsch an. Deutsch ist die Verkehrssprache. Und auch die Spielregeln der Schule stammen aus unserer Kultur, eben auch unsere Formen des Umgangs und Vorstellungen von Autorität. Dazu gehört es selbstverständlich auch, dass weibliche Lehrer geachtet werden und nicht deshalb Probleme mit männlichen Schülern bekommen, weil sie Frauen sind.
Das Parlament: Das Land Bayern hat gerade beschlossen, dass alle ausländischen Kinder ein Jahr vor der Einschulung in die Grundschule einen Deutschtest absolvieren müssen. Ist das Deutsch zu schlecht, müssen sie Kurse besuchen. Falls die Deutsch- kenntnisse bei der Einschulung immer noch nicht ausreichend sind, müssen diese Kinder auf die Sonderschule. Ist das der richtige Weg?
Hurrelmann: Ich finde es richtig, dass sprachliche Kompetenz eingefordert wird. Sonst kann der Lehrer nicht mit dem Kind arbeiten. Die Eltern, die ihre Kinder nicht an den Deutschkursen teilnehmen lassen, müssen ja sogar mit einem Bußgeld rechnen. Auch das ist sinnvoll. Allerdings ist es sehr wichtig, dass die Unterstützung im Vorfeld auch wirklich groß ist, denn sonst ist das Diskriminierung der traurigsten Art, nämlich von Kindern, die dafür nichts können. Außerdem muss man sich schon fragen, ob es sinnvoll ist, normal entwickelte Kinder auf die Sonderschule abzuschieben. Das löst kein Problem.
Das Parlament: Ist es dann nicht überfällig, eine Kindergartenpflicht einzurichten? Das würde vor allem Familien mit sozial schwachem Hintergrund helfen.
Hurrelmann: Allerdings. Der Kindergarten muss als ein zusammenhängendes Bildungs- und Erziehungssystem mit der Grundschule wahrgenommen werden und darf nicht länger eine Spielweise sein, wo keinerlei Lernprozesse stattfinden. Die Hirnforschung zeigt, wie aufnahmefähig die Kleinen sind und es ist unfair, ihnen nicht die Impulse zu geben, die sie brauchen. Bevor Kinder sechs Jahre alt sind, gibt es ganz entscheidende Phasen der Sprachentwicklung. Im Kindergartenalter können Kinder mal eben eine ganze Fremdsprache lernen. Nur wenige Elternhäuser sind in der Lage, ausreichende Bildungsanreize zu geben. Und gerade Familien mit geringem sozioökonomischen Status schicken ihre Kinder gar nicht in den Kindergarten. Um das zu ändern, sollten Kindergärten kostenfrei und verpflichtend sein.
Das Parlament: Erziehung findet aber nicht nur im Kindergarten und in der Schule statt, sondern vor allem in den Familien. Viele Familien mit Migrationshintergrund schotten sich zunehmend ab.
Hurrelmann: Dieser Abschottungsprozess hat sich in den letzten zehn Jahren verstärkt. Die Migrantenfamilien waren vor zehn Jahren bereiter, sich auf unsere Werte einzulassen. Nachdem ihnen aber hier keine Perspektiven geboten werden, haben sie sich zurückgezogen und beziehen sich fast nur noch auf ihre eigene Kultur. Das ist ein gefährlicher Prozess, der zu einer Ghettobildung geführt hat. Viele Türken sind in diesen "Communities" türkischer als ein Türke in der Türkei. Eine Verbindung zu diesen Menschen kann letztlich nur über kommunale Einrichtungen, sprich auch wieder über Kindergären und Schulen hergestellt werden. Ein Weg aus dem Ghetto führt immer nur über die Bildung.
Das Parlament: Diese Form der Abschottung gibt es nicht nur bei Migrantenfamilien. Auch in deutschen Familien breitet sich diese Tendenz aus. In der amerikanischen Gesellschaft gibt es eine wachsende Bevölkerungsschicht, die als "white trash" bezeichnet wird. Bildet sich auch hier eine neue soziale Unterschicht aus? Driftet die Gesellschaft auseinander?
Hurrelmann: Ja, es gibt deutliche Ansätze für eine Dreiteilung der Gesellschaft. Es gibt eine sehr privilegierte Gruppe des oberen Drittels. Die hat gute, sichere Arbeitsplätze mit großen Einflussmöglichkeiten. Schon das zweite Drittel lebt in prekären Lebenszusammenhängen. Aber es gibt ein letztes Drittel - und wir reden, ich betone das, über ein ganzes Drittel der Gesellschaft - das ohne Chancen ist. Das wird noch durch die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation verstärkt. Diese Menschen haben eine schlechte Bildung und keine Perspektiven. Der Wert von Bildung für die eigene Persönlichkeit, für die Stabilität und Integrität wird von ihnen dabei völlig unterschätzt. Bildung hat einen Eigenwert und stärkt das Selbstvertrauen und die Handlungsfähigkeit von Menschen. Aber anders als in früheren Generationen erhöht sich die Anzahl derer, die gar nichts mehr an ihrer Lebenssituation ändern wollen. Die haben sich ausgeklinkt. Viele leben bereits in der dritten Generation von Sozialhilfe und segeln bequem durch diese Gesellschaft. Das steht der ursprünglichen Idee von Sozialhilfe entgegen, die für kurze Krisenzeiten gedacht war. Nun führt sie zu langfristiger Trägheit.
Das Parlament: Was läuft in der Erziehung falsch? Wissen Eltern überhaupt noch, welche Werte gelten, welche Regeln sinnvoll sind?
Hurrelmann: Es gibt eine große Verunsicherung und Orientierungslosigkeit von Eltern und Pädagogen. Das hängt mit der beschriebenen Offenheit der Gesellschaft, mit den vielen Möglichkeiten und Informationsquellen zusammen. Viele Menschen verirren sich in der Freiheit. Alles wird ständig und individuell neu ausgehandelt, sei es die Geschlechterbeziehungen, seien es die Hierachien am Arbeitsplatz. Da kommen viele ins Rutschen und fragen: Wie soll ich da erziehen? Ein Drittel der Eltern kommt mit dieser offenen Situation sehr gut zurecht. Sie geben den Kindern Halt, arbeiten mit einem guten Maß an Autorität, kümmern sich aber auch um die Bedürfnisse. Das ist eine sinnvoll strukturierte Erziehung mit klaren Perspektiven. Und daraus entwickeln sich starke, leistungsfähige Kinder, die selbständig und sozial kompetent sind. Ein zweites Drittel erzieht ohne richtig große Fehler. Aber das letzte Drittel ist überfordert. Entweder treten Eltern total autoritär oder vollkommen unautoritär auf. Sie bekommen keine Struktur in die Beziehung zu den Kindern, lassen alles durchgehen oder verhalten sich autoritär ohne Autorität zu haben. Das führt dazu, dass Kinder sich nicht Benehmen können, keine Regeln kennen, keine Leistung bringen.
Das Interview führte Annette Rollmann