Der Hilfeschrei der Pädagogen der Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln, die sich der Gewaltbereitschaft mancher Schüler nicht mehr gewachsen fühlen, hat zu hektischer Aktivität der Politik und einer wahren Flut an unterschiedlichsten Forderungen geführt. Der FDP-Bundestagsfraktion war das Thema Anlass genug, eine Aktuelle Stunde im Parlament zu beantragen, und die Union fordert einen "Nationalen Aktionsplan Integration". Die bayerische Landesregierung will Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse nicht mehr in reguläre Klassen lassen, Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) droht Härte durch erleichterte Ausweisungen an und die Grünen plädieren für eine Abschaffung der Hauptschulen.
Nebenbei wird ein ideologisches Konzept beerdigt: Von einem Scheitern der "blauäugigen Multikulti-Gesellschaft" spricht Stoiber und der Berliner CDU-Spitzenkandidat Friedbert Pflüger rügt, man habe sich zu lange in "multikulturelle Träumereien geflüchtet". Zwar wird bei diesem Abgesang vergessen, dass das Stichwort "Multikulturelle Gesellschaft" vielfach mit Warnungen vor dem Entstehen von Parallelgesellschaften verbunden war, da es als Gegenmodell gilt zum "Melting Pot" der klassischen Einwandererländer, wo die unterschiedlichsten Kulturen zu etwas Neuem zusammen- schmelzen sollen.
Einig aber waren sich in der Aktuellen Stunde am 5. April im Bundestag alle Fraktionen, dass Handlungsbedarf besteht. "Die Zeit des Wegschauens und der Gleichgültigkeit ist vorbei", sagte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU). FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt sprach von einem "Realitätsverlust", den es viele Jahre in der Integrationspolitik gegeben habe, und auch der Berliner Bildungssenator Klaus Böger (SPD) gestand ein, dass die Politiker "zu lange weggeguckt haben".
Unterschiedliche Schwerpunkte setzen die Parteien allerdings bei den Ursachen, die sie für die Gewalt an Schulen ausmachen. Die Union macht in erster Linie eine mangelnde Integration von Schülern aus Migrantenfamilien verantwortlich. Der hohe Anteil von ausländischstämmigen Schülerinnen und Schülern an Hauptschulen - in der Neuköllner Rütli-Schule liegt er bei etwa 80 Prozent - erscheint der Partei als Beleg. Böhmer wies zudem darauf hin, dass jeder fünfte Schüler aus Zuwandererfamilien keinen Schulabschluss habe. Sie fordert Sprachtests und Sprachförderung, Elternkurse und eine stärkere Verzahnung von Schulen und Betrieben. Am Schulsystem will sie nicht rütteln: "Wer die Hauptschule abschreibt, schreibt die Schüler ab." Böhmer setzt auf den "Nationalen Aktionsplan Integration", den ihre Fraktion per Positionspapier einfordert.
Dort wird von den Zugewanderten Respekt "vor unserem Land" und die Bereitschaft zur Integration eingeklagt. Deutsche Sprachkenntnisse sollen gefördert und eine verpflichtende Prüfung von Grundkenntnissen über deutsche Geschichte, Kultur und Rechtsordnung als Einbürgerungsvoraussetzung eingeführt werden. Bei einem Mangel an Integrationswillen setzt die Union auf Sanktionen vom "Warnarrest" für Jugendliche bis hin zur leichteren Ausweisung ausländischer Straftäter. Allerdings werden in dem Papier auch soziale Ursachen für die Probleme wie den Ausbildungsplatzmangel anerkannt.
Der Wunsch des Koalitionspartners nach einem Integrationsgipfel wird von der SPD-Fraktionsspitze "begrüßt". Es müsse nun offen, kritisch, auch selbstkritisch, über Wege zur Integration gesprochen werden, fordert Böger. Dabei setzt die SPD auf verbesserte Bildung, Sprachkompetenz und Integration in den Arbeitsmarkt. Der wegen der sehr verspäteten Reaktion auf das Schreiben der Rütli-Schule unter Beschuss geratene Böger hat den Berliner Hauptschulen erstmal 50 neue Lehrer und eine massive Verstärkung der Sozialarbeit versprochen.
Vorstöße der Union nach erleichterten Abschiebungen lehnen die Sozialdemokraten ab. "Wir müssen diese Kinder als unsere Kinder ansehen und nicht wegschicken", sagte Böger im Bundestag. Von einer "Irreführung des Publikums" und Populismus sprach der stellvertretende integrationspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Michael Bürsch. Genauso haben sich die Grünen positioniert: "Wir reden über ein deutsches Problem und das kann man mit Abschiebung nicht lösen", sagte die grüne Fraktionsvorsitzende Renate Künast.
Im Gegensatz zur Union wird in den Reihen der Sozialdemokraten von Vizekanzler Franz Müntefering bis hin zu Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit eine Schulform gefordert, in der Kinder nicht so früh aussortiert werden. Auch die Erziehungsgewerkschaft GEW und die Grünen plädieren für eine Abschaffung der Hauptschulen, da es dort eine Zusammenballung von Kindern mit vielen sozialen Problemen gebe. "Die Kinder, die in die Hauptschule kommen, bekommen das Signal: Zu mehr bringst du's nicht!", kritisiert die bildungspolitische Sprecherin der Grünen, Priska Hinz. Kinder sollten ihrer Ansicht nach bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen und stärker als Einzelne gefördert werden.
Der Fachbereichsleiter Hauptschulen von der GEW, Norbert Gundacker, steht ebenfalls hinter dieser Forderung. Langfristig werde man nicht daran vorbeikommen, die Hauptschulen aufzulösen, und Schritt für Schritt "eine Schule für alle" zu etablieren, die nicht mehr selektiere, sondern die Schüler individuell fördere, sagt er. Auch die Linkspartei besteht auf grundlegenden Änderungen: "Wir wollen das dreigliedrige Schulsystem durch ein integratives Schulsystem ersetzen", sagte Gesine Lötzsch in der Aktuellen Stunde.
Die Liberalen gehen mit diesen Forderungen nicht konform. "Überhaupt nichts" hält der bildungspolitische Sprecher der FDP, Patrick Meinhardt, von einer Abschaffung der Hauptschulen. "Es gibt viele Hauptschulen, die toll funktionieren", sagt er.
Bündnis 90/Die Grünen setzen auf eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendhilfe, Familie und Familienberatung. Gerade Eltern mit Migrationshintergrund müssten Anlaufstellen für Erziehungsberatung finden und Erzieher mit interkulturellem Hintergrund, sollten gemeinsame Werte konsequent lehren, meint Priska Hinz. Die Abgeordnete hält eine verstärkte Integrationsarbeit, beispielsweise durch Deutschkurse auch für schon länger hier lebende Migranten für nötig und rügt aufs Schärfste, dass die Bundesregierung hier Mittelkürzungen vornehmen wolle. "Die Integrationsarbeit steht erst am Anfang, da ist noch viel gesellschaftliche Anstrengung nötig", sagt Hinz.
Klar scheint zu sein: Mangelnde Sprachkenntnisse und patriarchale Einstellungen kommen bei Hauptschülern mit Migrationshintergrund als Faktoren dazu, die ihre Chancen auf eine berufliche Perspektive zusätzlich erschweren können. Aber je genauer man hinschaut auf die Schulen, die soziale Probleme bewältigt haben, und je intensiver man den Praktikern vor Ort zuhört, desto kleiner scheint das Problem der nationalen Herkunft der Schüler zu sein. "Die wichtigsten Punkte sind die sozialen Notlagen und die Bildungsferne vieler Eltern", sagt Jens Großpietsch, Rektor der Heinrich-von-Stephan-Oberschule in Berlin-Moabit, die als ein gelungenes Modell von Haupt- und Realschule in integrierter Form gilt.
Auch für den GEW-Vertreter und Hauptschullehrer an der Berliner Werner-Stephan-Schule, Norbert Grundacker, ist die Integration nur ein Teil der Probleme. Er verweist darauf, dass im Ostteil Berlins die sozialen Problemlagen an Hauptschulen ähnlich seien, obwohl es kaum ausländische Schüler gebe. "In den Hauptschulen konzentrieren sich die Schüler, die schon in der Grundschule hinten runterfielen, die völlig perspektivlos sind, kein Selbstbewusstsein und viele schlechte Erfahrungen gemacht haben", sagt Grundacker. Die Eltern würden sich immer mehr aus der Erziehung zurückziehen, viele Kinder kämen ungewaschen und ohne Frühstück zur Schule. "Da hat der Staat zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und muss mehr Geld investieren", fordert der Gewerkschafter. Eine bessere wissenschaftliche Vorbereitung für Lehrer, Fortbildung und mehr jüngeres Personal, hält er für nötig, um die dringend notwendige Motivation der Pädagogen zu erreichen. Außerdem sei es wichtig, Eltern und Schüler mit ins Boot zu holen, damit der Schulalltag funktioniere.
Darauf setzt auch die mehrfach ausgezeichnete Berliner Heinrich-von-Stephan-Oberschule, die wöchentlich Benachrichtigungen über gute und schlechte Leistungen der Kinder an die Eltern verschickt. Ähnlich wie an anderen erfolgreich funktionierenden Hauptschulen gibt es auch in Moabit ein geschickt austariertes System aus - durchaus strengen - Regeln auf der einen und Förderung auf der anderen Seite. "Es ist eine Balance zwischen Gefühl und Härte", sagt Rektor Jens Großpietsch, dessen Schule einen Anteil von rund 48 Prozent an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund hat. Die Schüler müssen alle 14 Tage eine Bildungsvereinbarung entwickeln, mit der sie sich drei Ziele setzen. Erreichen sie zwei davon, bekommen sie einen Hausaufgabengutschein, der sie einmal vom Gedichtlernen oder Bruchrechnen befreit. Es gibt Streitschlichter, regelmäßige Treffen mit den Lehrern, Sozialpädagogen und Eltern, Kooperationen mit der Wirtschaft und relativ viel Unterricht, der von zwei Lehrern gestaltet wird. Das Erfolgsrezept der Schule sei "ein ganzes Bündel von Maßnahmen", sagt der Schulleiter. Von angedrohten Sanktionen bis hin zur Ausweisung für einen Mangel an Integration hält Großpietsch wenig. "Schnellschüsse" seien das, sagt der Rektor, und: "Leute derart unter Druck zu setzen sollte nicht das erste, sondern das letzte, das allerletzte Mittel sein."
Auch den Liberalen geht es erst in zweiter Linie um die Integration von Migranten. "Es gibt genügend deutsche Schüler, die die gleichen Probleme machen", sagt Patrick Meinhardt, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Ein besonderes Augenmerk müsse darauf gelegt werden, Eltern in ihrer Erziehungsfähigkeit zu unterstützen, fordert Meinhardt. Beim Ausbau von Ganztagsangeboten an Schulen sei es wichtig, nicht Ein-Euro-Jobber, sondern qualifizierte Fachkräfte einzustellen, über die die Schulen selbstständiger entscheiden können sollten. Mit zusätzlichem Unterricht am Nachmittag soziale Kompetenzen stärken, Streit-schlichter ausbilden und mit Kultur und Kunst bei den Schülern Kreativität wecken - das sind die Rezepte, die dem Liberalen vorschweben. Zudem plädiert er für ein neues Pflichtfach: "Kontakt zur Wirtschaft". "Es muss viel früher von den Schulen Kontakt zur Wirtschaft aufgenommen und Praktika angeboten werden, damit die Schüler für sich eine Perspektive sehen", sagt Meinhardt. Ob ein neues Fach ausreicht, das Problem "Zukunft" für die Hauptschüler zu lösen, ist fraglich, und dennoch ist vielleicht genau dies der wundeste Punkt der ganzen Debatte: GEW-Vertreter Grundacker: "Auch wenn Schüler einen guten Eindruck bei Praktika hinterlassen, landet nur eine Minderheit in der Ausbildung. In manchen Familien lebt schon die zweite oder dritte Generation von Sozialhilfe. Wie soll die Schule das auffangen?"