Einleitung
Symbole begegnen uns überall, und wir können uns ihrer Macht nicht entziehen. Symbole durchwirken nicht nur die Welt, in der wir leben, sie prägen auch unser Leben. 1 Was sind Symbole? Wir denken zunächst an Zeichen, mit denen man etwas zu erkennen gibt: an Abzeichen und Embleme, an Flaggen und Hymnen, an besondere Stätten und Rituale. Aber nicht nur das sind Symbole. Wo immer etwas eine Ausdrucksqualität hat, wo es etwas besagt, und wo dieses Etwas eine dingliche, eine sinnlich präsente Form besitzt, handelt es sich um ein Symbol. Die Wörter unserer Sprache und auch schon die Laute in den Wörtern, die Bilder, die uns umgeben, ebenso die Ausdrucksformen unserer Mimik, Gestik und Körperhaltung - all dies sind Symbole.
Und wo es nicht nur um Wörter oder Laute geht, sondern um eine ganze Sprache, da bilden sich ganze symbolische Welten oder - wie der Philosoph Ernst Cassirer sagt - symbolische Formen, in denen die einzelnen Symbole aufeinander verweisen und einander Bedeutung verleihen. Würden wir nur ein einzelnes Lautgebilde hören und dies in einer Situation, in der wir noch nicht wissen, um welche Sprache es sich handelt, und ebenso wenig, worum es in dieser Situation geht, dann würden wir nichts verstehen. Wir müssen die einzelne Äußerung als Teil einer symbolischen Welt bzw. einer symbolischen Form verstehen, um sie als Wort oder Satz erkennen zu können. Und um zu verstehen, um was es überhaupt gehen könnte, müssen wir oft auch noch den Situationszusammenhang erkennen.
So geht es uns tagtäglich in allen Bereichen unseres Lebens. Wir würden weder von uns selbst noch von der Welt, die uns umgibt, etwas verstehen, könnten wir uns nicht auf Symbole und symbolische Formen beziehen, mit und in denen wir wahrnehmen und darstellen, was etwas ist und worum es jeweils geht. Natürlich besitzen wir auch vorsymbolische Orientierungen. Unser leibliches Weltverhältnis wird von unseren Bedürfnissen geleitet und durch unsere Sinne erschlossen. Insofern sind wir immer schon orientiert; durch die Symbole aber werden Sinnverhältnisse in die Welt gebracht. Erst dadurch verbleiben die Ereignisse und Dinge, denen wir begegnen, nicht im engen Kreis von Sinnesreizen und Bedürfniszielen, sondern gewinnen einen Ort in der unbegrenzten Welt der Bedeutungen, in der alles nicht nur für sich selbst, sondern auch für etwas anderes bedeutsam ist. Mit der Herausbildung von Symbolen vollzieht sich der Übergang von einer leiblichen zur geistigen Weltorientierung: der Prozess der Menschwerdung. Dies gilt es zu erläutern.
Form und Sinn
Symbole, so sagen wir, sind Ausdrucksformen. Ausdruck bedarf der Äußerung. Der erste entscheidende Schritt zur symbolischen Äußerung ist die Entstehung einer Form im Ereignis der Äußerung. Erst dort, wo sich eine Form darüber hinaus ausbildet und verfestigt, ist eine Äußerung als diese oder jene identifizierbar. Dies gilt auch für tierischen Äußerungen. Das Bellen des Hundes bei der Ankunft seines Herrn besitzt zum Beispiel eine andere Form als das beim Nahen eines Fremden.
Auch für den Hund ordnet sich damit seine Welt: Er besitzt einen Sinn für Formen und kann damit Sinn erfassen. Denn Sinn ist in seiner Grundform nicht mehr als Verweisung. Wir sehen ein Liniengefüge oder ein Farbengeflecht, eine Wölbung oder eine Kante. Aber wir sehen nicht nur diese Form. Wir sehen sie auch als Verweise auf ihr Auftreten in anderen Konstellationen. Die Form in einer Rockfalte und in der Kante eines Felsens, in einem Nasenrücken - den das Englische übrigens als "bridge of the nose" sieht - und im Sturzflug einer Seeschwalbe: die Form in der Vielfalt ihres Auftretens schafft ein Netz von Verweisungen, sozusagen Verwandtschaftsbeziehungen der Formen, die unsere Sehwelt zusammenhalten. Diese Verweisungsverhältnisse schaffen damit Zusammenhang und Ordnung: Sinn wird durch Form in die Welt gebracht, weil diese durch Verweisung Zusammenhang und Ordnung ermöglicht. Sinn entsteht in der Formwahrnehmung.
Sinn und Tradition
Die Formwahrnehmung ermöglicht, aber schafft noch nicht die symbolische Form. Diese bedarf der Weiterformung in einer Traditionsbildung, nämlich der immer weiteren Ausbildung und Ausbreitung der Wahrnehmungs- und Äußerungsformen über das Leben und Lernen der Individuen hinaus. Tradition schafft einen kollektiven Besitz des Gekonnten und nutzt diesen als Grundlage für dessen Weiterbildung zu einer höheren Stufe des Gekonnten. Es entsteht damit eine Art "Wagenhebereffekt", der eine immanente Fortentwicklung der Wahrnehmungs- und Äußerungsformen zu symbolischen Formen und damit eine kulturelle Entwicklung möglich macht.
Entscheidend für eine solche Entwicklung ist deren Immanenz: Sind zum Beispiel erste Lautzeichen da, mit denen etwas zum Ausdruck gebracht werden kann, dann wird eine Traditionsbildung in dem Augenblick möglich, in dem die mit diesen Zeichen gebildeten Formen eine eigene Dynamik entfalten. Nicht mehr nur der Ausdrucksimpuls in einer Situation, sondern auch die inneren Formverhältnisse einer Äußerung, wie zum Beispiel deren Akzente und Rhythmen, werden dann zum treibenden Impuls weiterer Äußerungen, die sich am Ende auch zu Reden zusammenschließen können. Der "Motor" einer solchen Entwicklung liegt in der Sprache selbst: Er muss zwar von den Individuen und ihrem Ausdrucksbedürfnis in Gang gebracht und gehalten werden. Aber als ein bewegliches Feld von Form- und damit auch Sinnverhältnissen besitzt er eine interindividuelle Existenz. Mit und in der Sprache entstehen so Geschichten und mit der Schrift dann auch eine Literatur, die Stile und Werke und damit Richtungen und Epochen ihrer Entwicklung ausbildet. Und ebenso verlaufen die Entwicklungen in allen anderen Bereichen unserer Welt: Neben der Sprache entwickeln sich auch in den Bildern, in den sozialen Beziehungen und Lebensentwürfen, in den Religionen und technischen Verfahren etc. immanente Dynamiken, die sich zu symbolischen Formen, zu charakteristischen Zusammenhängen unseres Wahrnehmens und Darstellens, Denkens und Handelns zusammenschließen. Wo überhaupt Formen sich miteinander zu Formverhältnissen verknüpfen, entstehen aus der immanenten Dynamik dieser Formverhältnisse symbolische Formen - und entsteht Kultur als das Ensemble dieser symbolischen Formen.
Sinn und symbolische Kultur
Als interindividuelle Formverhältnisse bilden die symbolischen Formen eine öffentliche und gemeinsame Welt. Die Symbole, die wir verwenden, sind Dinge, die in der Öffentlichkeit hergestellt und wahrgenommen werden. Andere können sie ebenso gut herstellen wie wir. Andere vernehmen sie ebenso gut wie wir. Als Elemente eines öffentlichen Lebens sind sie im Miteinanderhandeln und -reden der Menschen gegründet. Und zugleich tragen und prägen sie damit dieses Miteinanderhandeln und -reden. Wenn wir persönlich etwas zum Ausdruck bringen wollen, tun wir dies in Formen, die wir nicht selbst geschaffen haben. Wir artikulieren uns in einem Reich des bereits Artikulierten. Und wenn wir uns selbst artikulieren wollen, tun wir dies gegenüber anderen, die uns über das gemeinsame Formenreich, in dem wir uns artikulieren, verstehen sollen.
Damit zeigt sich eine grundlegende Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit. Denn auf der einen Seite entwickelt sich in der individuellen Artikulation das je Eigene des Sagens oder Tuns. Auf der anderen Seite gewinnt ein jeder sein Eigenes nur in dem Formenreich des schon Gesagten und Getanen. Damit steht das Selbstsein in einer unaufhebbaren Differenz zum Anderen und gewinnt so seine Identität. Auch wenn das bereits Gesagte und Getane - also das Formenreich, das uns überkommen ist und in dem wir uns artikulieren - von uns in eine eigene Form gebracht worden ist, bewahrt es doch seine Eigenheit. In unserem Selbstsein verhalten wir uns selbst formend zu der Andersheit der Form. Und nur, wenn wir diese eigene Formung in unsere Artikulation einbringen, gelingt es uns, überhaupt etwas zu sagen und uns damit auch selbst zum Ausdruck zu bringen.
Kultur, so können wir sagen, bietet uns die Möglichkeit zu einem artikulierten Welt- und Selbstverhältnis, indem sie uns zu einem individuellen Selbstsein verhilft und damit, wie Cassirer sagt, die Grundlage für die "Selbstbefreiung" des Menschen bietet: "Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß. In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft - die Kraft, sich eine eigene, eine ,ideale` Welt zu errichten." 2
Aus diesem Zusammenhang ergeben sich viele Fragen zum Verhältnis von persönlicher Artikulation und symbolischer Kultur. Hier seien nur drei dieser Fragen gestellt: Welche Form des Selbstseins ist uns in einer Prägung durch die symbolische Kultur möglich? Wie verschränken sich dabei die Grenzen der Tradition mit den Möglichkeiten zur Innovation? Und wie können wir das Verhältnis von - individuellem und kulturellem - Selbstsein und Andersheit verstehen? Alle drei Fragen lassen sich in einer zusammenfassen: Welche Macht haben die Symbole?
Selbstsein und symbolische Kultur
Eine erste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Selbstsein und symbolischer Kultur haben wir schon in unseren Überlegungen zu Ausdruck und Form vorbereitet: Man kann unsere symbolische Kultur insgesamt als den groß angelegten und immer wieder neu aufgenommenen Versuch ansehen, Ausdrucksformen zu entwickeln, die den imaginativen Wirbel und den emotionalen Aufruhr unseres Bewusstseins zur Form zusammenbinden. Erst mittels der Symbolisierung, so können wir wiederholen, gewinnt das menschliche Bewusstsein seine immer wieder identifizierbare Form. Der Mensch gewinnt mit ihr seine geistige Identität. Aus seinen persönlichen Vorstellungen können nun Gedanken werden, über die man sich austauschen, auf die man zurückkommen, die man verwerfen und annehmen kann. In seiner "cultural community", seiner kulturellen Gemeinschaft, kann er sein Selbstsein gewinnen und es immer wieder bestätigen lassen, kann er sich auf andere in deren Selbstsein beziehen und damit an der Festigkeit des kulturellen Gewebes arbeiten, in dem ein Selbstwerden und -sein möglich ist.
Eine zweite Antwort ergibt sich aus den Überlegungen zur symbolischen Kultur als solcher, da diese doch zunächst überhaupt das Medium zur individuellen Artikulation bietet. Wenn Artikulation immer ein Verhalten zu bereits Artikuliertem ist, dann bedarf mein Selbstwerden und -sein, das ja artikulierendes und artikuliertes Sein ist, dieses Mediums. In diesem Sinne ist symbolische Kultur kein von außen auferlegter Zwang, sondern ein "Angebot", in dessen durchaus individueller und höchst unterschiedlicher Annahme wir überhaupt erst zu einer Form unserer Äußerungen, zu einer Artikulation unseres Ausdrucks und damit auch zu einem persönlichen Selbstsein kommen.
Diese Verschränkung von persönlicher Artikulation und kulturellen Ausdrucksformen hat noch eine weitere Dimension, die wir die Dimension des Werkes oder des Werkcharakters unserer Äußerungen nennen können. Mit einem Blick auf den schönen Kleist-Text Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden können wir uns zum Beispiel vergegenwärtigen, wie im Prozess des Redens das, was wir sagen, sich entwickelt. 3 Im Reden entsteht, wenn wir nicht ablesen oder aufsagen, das, was wir sagen. Dabei ist es nicht immer so, dass das, was wir sagen, auch das ist, was wir am Ende als das erkennen, was wir haben sagen wollen. Nehmen wir aber einmal an, es wäre so, dass das, was wir sagen, wie im Falle Mirabeaus in der Kleist'schen Schilderung, zugleich das ist, was wir im Reden als das erkennen, was wir sagen wollten, und also auch als das, was wir denken. Selbst in diesem Fall ist es aber doch so, dass das, was wir sagen, schon im Augenblick seiner Äußerung ein Eigenleben zu führen beginnt. Es wird zum Teil einer Sprache, in der auch andere und im Übrigen auch wir selbst in anderen Situationen ebenfalls etwas sagen oder schreiben. Es geht dabei vielfältige Verbindungen mit dem in dieser Sprache Gesagten und Geschriebenen ein, Verbindungen, die wir in unserem Reden weder überschaut haben noch überschauen konnten.
Das Gesagte löst sich von der Person, die es gesagt hat, und auch von der Situation, in der sie es gesagt hat. Und dies geschieht gleichzeitig mit und in dem Reden, in dem wir unsere Gedanken allmählich formulieren und verfertigen. Denn die Sprache, in der wir uns ausdrücken, ist (wie jede der symbolischen Welten, in denen wir uns bewegen) in ihren Ausdrucksformen bereits da, wenn wir beginnen, uns in ihr zu artikulieren. Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist. Unsere ganze geistige Existenz ist eingebettet in der symbolischen Kultur, in der die geistige Existenz anderer ihre Spuren hinterlassen hat. Wir leben daher in einer stetigen Differenz von einem sich erst bildendem Ausdruckswillen und der von ihm im Medium der symbolischen Kultur gebildeten Ausdrucksform. Diese Differenz lässt sich nicht ausgleichen, auch nicht in der gelungenen Artikulation, wie sie Kleist in seinem Text vorführt.
Die Beschreibung einer allmählichen Verfertigung des Gedachten - und damit eben auch des Gesagten - beim Reden zeigt, dass der gelungene Ausdruck ein Zusammentreffen von Verschiedenem ist. Der Redner selbst wird in einem gewissen Sinne vom Gelingen seines Ausdrucks überrascht. Als eigenes Ereignis fassen wir dieses Gelingen nur, weil wir es nicht schon so, wie es geworden ist, vorausgesehen haben und voraussehen konnten. Das sprachliche Feld, in dem wir uns bewegt haben, hat uns mit den in ihm abgelagerten Verknüpfungen in eine Dynamik des Verweisens hineingezogen, die das benutzte Wort mit weiteren Sinnverbindungen anreichert und Zusammenhänge sichtbar werden lässt, die sich auch aus eigenem Recht im Denken und Reden ausbreiten.
Gerade dieses Eigenrecht der Sinnverbindungen, diese - wie Ernst Cassirer sie nennt - ",Andersheit` der Form" 4 und damit die bleibende und jeweils von Neuem sich ausweisende Differenz der Form zum individuellen Ausdruckswillen macht den gelungenen Ausdruck zu einem Ereignis, das sich der Planung - wenn auch nicht der Vorbereitung - entzieht. Und weil es diese Differenz gibt, diesen Überschuss an Sinn über unsere Absicht hinaus, ist der gelungene Ausdruck selbst dort, wo er von uns (vollkommen zutreffend) in einer Identität von intendierter und artikulierter Äußerung erfahren wird, ein für uns Neues - etwas, auf das wir zwar gerichtet waren, mit dem wir aber nicht gerechnet haben.
Tradition und Innovation
Dieser Gedanke führt uns bereits zur Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Innovation. Tatsächlich finden wir in der symbolischen Kultur eine Tendenz zum Neuen. Wir finden aber auch noch eine gegenläufige Tendenz, nämlich die zur Verfestigung des bereits Geformten oder auch Errungenen. Es ist dies die Tendenz zur Formelprägung.
Jede Symbolisierung bedeutet eine Fixierung. Im Symbol verfestigen sich nicht nur die flüchtigen Momente unseres Bewusstseins, sondern auch unsere Gedanken, die über ihre Formulierung - also über ihre sprachliche Symbolisierung - eine eigene und sogar von uns unabhängige Existenz gewinnen. Jede Symbolisierung ist somit eine Formulierung - wobei ich hierzu auch bildliche, gestische und andere nichtsprachliche Formulierungen zähle. Jede dieser Formulierungen tendiert dazu, die in ihr erreichte Fixierung über die Situation hinaus festzuhalten und dadurch zur Formel zu werden: im Sinne einer verselbstständigten Ausdrucksform, die man wie einen Gegenstand benutzen, nahezu beliebig einsetzen und über die man immerzu verfügen kann.
Damit etwas eine Formel wird, muss es nicht gleich die stehende Redewendung oder Ausdrucksform einer ganzen Gesellschaft sein. Die Wiederholung im anderen Kontext, die charakteristisch für die Formel ist, wohnt als Tendenz jeder Formulierung inne,kann sie sich dadurch doch selbst zum gelungenen Ausdruck erklären. Wir stützen uns auf Formeln, wir suchen sie, wir prägen sie, wir orientieren uns an ihnen und durch sie. Salopp könnte man sagen: das geistige Leben besteht - gerade in seiner Kreativität - aus einem Prozess ständiger Formelprägung.
Diese Formelprägungen zeigen sich in unserem geistigen Leben in verschiedenen Gestalten, manchmal auch versteckt oder getarnt als Kritik an Formeln: so etwa im Gestus der durchaus formelhaften Auflösung aller Formeln, besonders der Tradition, der Überholung auch des Modernen durch das Postmoderne, des Kulturellen durch das Multikulturelle, des Disziplinären durch das Interdisziplinäre. Diese Überholungsformen stecken ein Diskursfeld der negativen Formelnutzung ab, die sich ihrer eigenen Formelhaftigkeit oft nicht bewusst ist und die ohne den Bezug auf ihre Ursprungsformeln ihren Sinn verlieren kann. Ohne Sinn für das Formelhafte präsentiert sich unser Handeln vielfach auch dort, wo es nicht um die Fixierung einer bis in ihre Einzelheiten hinein gleichbleibenden Theorie, Argumentation oder Formulierung geht. Eine Formel kann auch ein Verfahren sein, eine Geste, ein Stil, überhaupt eine Art des Umgangs, die sich auf Verschiedenes bezieht.
Mit der Betonung des Formelcharakters unserer Symbolisierungen soll die Tendenz zur Selbstbestätigung und Selbstbehauptung hervorgehoben werden, die unser geistiges Leben insgesamt durchzieht. Diese Tendenz ist zugleich die Tendenz zur Sicherung der einmal gewonnenen Orientierungen, zum Abschluss der Arbeit an den Formeln, in denen wir unser Selbst- und Weltverständnis artikulieren. Ihr gegenüber steht die bereits angesprochene Tendenz zum Neuen.
Das Neue, mit dem wir nicht gerechnet haben, entsteht aus der inneren Differenz zwischen dem Eigenen, das wir zum Audruck bringen wollen, und der "Andersheit der Form", die schon besteht und ihr eigenes Sein besitzt. Dadurch wird im Grunde jede Formbildung, wenn sie denn nicht nur Wiederholung sein will oder ist, eine Neuformung. Für Ernst Cassirer ist dieses Verhältnis von Formbildung und Neuformung (bzw. von forma formans und forma formata, wie er es selbst nennt) das Grundverhältnis allen geistigen Lebens und damit aller Kulturentwicklung: "Nur in (...) dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form [...] beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ,natura naturata` und der ,natura naturans` geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ,forma formans` und der ,forma formata` unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ,forma formans`, die zur ,forma formata` wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ,forma formans` wiederzugebären - dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet." 5
Die Formbildung als solche entfaltet eine Dynamik von Formprägung und Neuformung, die nicht als eine gegenseitige Störung, sondern als eine gegenseitige Steigerung des Persönlichen - des "Individuellen" - und des Öffentlichen, des Geistigen und Kulturellen - des "Universellen" - in unserem Leben wirkt. Ernst Cassirer bringt dieses Verhältnis in die Formulierung: "Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann." 6
Indem Cassirer auf das Universelle in der Tat der Individuen hinweist, schließt er die kulturelle und die persönliche Seite des geistigen Lebens in der Einheit des menschlichen Handelns, in der Arbeit an der Form zusammen. Diese Arbeit an der Form ergibt sich dabei als ein generisches Charakteristikum des menschlichen Handelns. Denn im Grunde kann man die gesamte geistige Tätigkeit als Arbeit an der Form beschreiben. In jedem einzelnen Ereignis dieser Arbeit werden die symbolischen Welten, die unsere Kultur ausmachen, zugleich erneuert und erhalten, erweitert und ineinander verschränkt. Diese symbolischen Welten, die der Mensch sich schafft und in denen er sich artikuliert und seine Form gewinnt, sind in ihrer Mannigfaltigkeit unübersehbar und lassen sich nur dadurch einschränken, dass sie einen Prozess der Symbolisierung durchlaufen müssen. Den Ausdrucksformen des Menschen, so sie denn überhaupt die Schwelle der Artikulation überwinden, sind ansonsten keine Grenzen gesetzt. Sie können sich in immer wieder neuen Konfigurationen oder neuen Bezügen ausbilden.
Beide Tendenzen, die bewahrende und die erneuernde, charakterisieren die Struktur eines jeden Symbolisierungsprozesses und bestimmen damit auch seine Dynamik. Es scheint dabei eine anthropologische Tatsache zu sein, dass wir nur ein gewisses Maß an Erneuerung, aber auch an Beharrung aushalten können. Aber zugleich ist es eine ebenso anthropologische Tatsache, dass wir das Neue suchen (wie es scheint, manchmal fast um jeden Preis) und dabei doch das Alte erhalten, das Neue in das Alte eingliedern wollen.
Das Bedürfnis zur Begrenzung von Erneuerungen beantworten wir, wie schon gesagt, mit dem Aufbau einer symbolischen Kultur. Das Bedürfnis zur Begrenzung des Beharrens beantworten wir mit Systemen zur Prämierung von Neuem - dieses aber im Allgemeinen innerhalb der jeweiligen symbolischen Kultur. Weder zwischen den beiden Bedürfnissen noch zwischen den Wegen zu ihrer Bewältigung oder Befriedigung herrscht Symmetrie. Das erste Bedürfnis ist das zur Orientierung überhaupt, zur Schaffung einer Ordnung, in der sich Lebens- und Handlungsformen ergeben, das heißt: das Bedürfnis nach (kultureller und später dann auch persönlicher) Identität. Mit den verschiedenen Arten, eine solche Identität zu erzeugen und zu erhalten - also mit der Entwicklung von Kultur überhaupt -, wird dann eine dialektische Bewegung der Formelprägung und Formelauf- und -ablösung in Gang gesetzt, welche die verschiedenen symbolischen Kulturen in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Maße charakterisiert.
Selbstsein und Andersheit
Wie viel Selbstsein erreichen wir in unserer symbolischen Kultur, und wie viel Andersheit gegenüber dem Gemeinsamen dieser Kultur ist dabei möglich? Diese Frage rückt eine grundlegende Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit in den Blick. Diese Dialektik zeigt sich in ihrem Bezug auf die Andersheit der Form zunächst nur in ihrem generischen, anonymen Charakter. Wo und in welcher Form überhaupt eine Kultur sich hat entwickeln können, steht der Mensch der Andersheit der Form gegenüber, einer neutralen Andersheit, die als das Andere und nicht auch schon als der Andere oder die Anderen dem jeweiligen Individuum entgegentritt.
Die Andersheit der Anderen reicht als eine neue Form über die generelle Andersheit der Form hinaus. Durch die Arbeit an der Form im Umgang mit den Anderen entsteht ein neues Sinnverhältnis, das sich im wechselseitigen Bezug zwischen dem Eigenen des Selbstseins und der Andersheit der Anderen realisiert. In der Form der Anderen tritt mir etwas anderes als die bloße Andersheit der Form entgegen. Nicht mehr bloß das Andere schafft eine Differenz in meiner Artikulation, sondern die Anderen treten mir nun entgegen. Sie sprechen mich an und sind Individuen wie ich selbst eines bin. Dieses Sinnverhältnis verbleibt nicht in der Anonymität von Strukturen, sondern konkretisiert sich in den Situationen des Umgangs miteinander, in dem sich Personen begegnen und miteinander auseinander setzen.
Der wechselseitige Bezug von Selbst und Anderen charakterisiert den Menschen in einer besonderen Weise als ein "Zwischensein", 7 als Mensch zwischen Menschen, der nur im Bezug auf diese anderen Menschen sein Selbstsein verwirklicht. Die Wirkungen dieser Bezugnahmen reichen tief in unser geistiges Leben hinein. So sehen wir uns meist mehr mit den Augen der Anderen als mit unseren eigenen, sehen - in der objektivierenden Einstellung des Beobachtens - die Anderen in vielen Hinsichten besser als uns selbst. Wer wir sind, das zu erkennen, bedarf immer auch des Spiegels der Anderen.
Wir selbst werden so in unserem Selbstsein getragen oder auch fallen gelassen von den Spiegelungen, die unser Sagen und Tun, unser Gegenwärtigsein oder auch Nichtdabeisein in den Anderen hervorruft. Unser Selbstsein ist so nie nur unsere Sache. Den Blick des Anderen uns gegenüber und der Anderen um uns herum - was übrigens einen großen Unterschied ausmacht - geht ein in unser Selbstsein. Das, was wir als unser Selbstsein ausmachen oder auch nur auszumachen vermeinen, ist so etwas wie ein durchgehaltener Grundakkord im Konzert vieler Stimmen, die auf uns eindringen.
Unser Selbstsein ist auf der einen Seite durchwirkt von den Bildern, die uns die Anderen in ihrem Verhalten uns gegenüber zeigen, und ist auf der anderen Seite unsere Haltung gegenüber den Anderen. Unser Selbstsein entwickelt sich in den Spiegelungen, die wir von den Anderen erfahren. Wir bilden uns zu unserem Selbst in unseren Reaktionen auf diese Spiegelungen, die in unser Selbstsein eingehen.
Die Andersheit der Anderen ist gegenüber dem Eigenen des Selbst ein Neues. Es ist dies ein ständig auf uns eindringendes Neues, aber keines, das uns zwingt, selbst auf es in einer neuen Weise zu reagieren. Es ist ein Neues im Sinne einer Herausforderung und eines Angebots. Wir können durchaus versuchen, den wechselvollen Auftritten der Anderen und darin des immer wieder Anderen und Neuen durch ein Beharren auf dem Selben zu begegnen und damit in der Verfestigung unserer Selbigkeit zu verbleiben und darin unser Selbstsein zu leben.
Eine solche Form des Beharrens auf Selbigkeit käme allerdings einer Totenstarre im geistigen Leben gleich und würde unserem Bedürfnis, etwas und damit zugleich auch uns selbst zum Ausdruck zu bringen, nicht entsprechen. Das sich Einlassen auf das Neue, das uns in unseren vielfachen Bezügen auf die Anderen und deren Andersheit entgegentritt, lässt uns auch das immer wieder Neue in unserem Selbstsein erfahren. Und dieses Selbstsein, das sich auf das Neue einlässt, kann sich durchaus in einer gleichwohl sich durchhaltenden Selbigkeit, nämlich in einer im Wechsel sich bewährenden Selbigkeit der Weiterentwicklungen, in einer Selbigkeit der eigenen Lebensgeschichte ausbilden. Das Neue ergibt sich hier als eine Tendenz, die sich aus dem Willen zum Selbst, zu einem Eigenen des Selbstlebens, zu einer eigenen Geschichte unseres Lebens in dessen sozialer und kultureller Verfassung - also in seinem Bezug auf die Andersheit der Anderen und die Andersheit der Form - entwickelt.
Die Macht der Symbole
Noch eine dritte Form von Andersheit soll angeführt werden. Es ist dies die Andersheit der anderen Kulturen. Auch hier liefert die Dialektik von Selbstsein und Andersheit die Folie der Darstellung. Die Dialektik von Selbstsein und Andersheit im Verhältnis verschiedener Kulturen zueinander ergibt sich aus einer schärferen Polarität, als sie zwischen den Individuen in einer Kultur besteht - bieten doch Kulturen als Inbegriff der in der Geschichte eines Volkes verfestigten Ausdrucksformen den Rahmen, innerhalb dessen die Individuen sich artikulieren und damit ihr Selbstsein gewinnen und sich ihre Andersheit entwickelt.
Dabei ist zu sehen, dass der kulturelle Rahmen für das individuelle Selbstsein durchaus nicht "einfältig" ist. Denn in die meisten Kulturen haben viele und zum Teil gegensätzliche Einflüsse hineingewirkt, und aus ihnen sind viele und zum Teil gegensätzliche Impulse hervorgegangen. Kulturen weisen daher gewöhnlich ein komplexes und innerlich vielfältiges "Selbstsein" auf, das verschiedene und möglicherweise auch gegensätzliche Orientierungen ermöglicht.
Gleichwohl ist es so, dass wir nur dann überhaupt von einer Kultur reden können, wenn diese Vielfalt eine Vielfalt wechselseitig verständlicher, wenn auch damit nicht schon wechselseitig geschätzter oder auch nur gebilligter Ausdrucks- und damit Lebens- und Handlungsformen ist. Trotz aller Spannungen, die damit entstehen und auch zu heftigen Auseinandersetzungen nicht nur zwischen Individuen, sondern zwischen kulturell verschieden positionierten und geprägten Gruppen führen, verbleiben diese Differenzen in einem umgreifenden kulturellen Verstehenszusammenhang, der Andere zwar zu Gegnern machen kann, aber eben zu Gegnern, die man versteht oder zu durchschauen glaubt.
Gegenüber diesem intrakulturellen Verhältnis fehlt dem interkulturellen Verhältnis von Selbstsein und Andersheit, so scheint es zumindest vielfach, ein übergreifender Verstehenszusammenhang. Denn wenn wir nicht mehr über die Andersheit der Anderen im eigenen kulturellen Umfeld reden, sondern über die Andersheit anderer Kulturen, wird uns der Orientierungsrahmen genommen, der uns die Anderen auch in ihrer Andersheit und selbst als Gegner noch verstehen lässt. Aus den Anderen werden Fremde, die in vielen Fällen nicht einmal Gegner in einem gemeinsamen Spannungsfeld werden können. Wo die elementare Gemeinsamkeit fehlt, die durch eine gemeinsame Kultur geschaffen und erhalten wird, erscheint uns jemand fremd, dem wir oft - zumindest zunächst - mit einer gewissen Verständnislosigkeit und vielfach auch mit Interesselosigkeit begegnen.
Tatsächlich müssen solche Begegnungen nicht die Fremdheit des ersten Augenblicks verfestigen und auch das Verstehen des Fremden ein für alle Mal vereiteln. Wenn die Unterstellung von Sinn und eine offene Neugier sich zu einem Verstehenwollen miteinander verbinden und dazu eine durch Wissen gestützte Phantasie und genaue Beobachtung den Blick für Sinnzusammenhänge auch in der anderen Kultur schärfen, dann kann sich auch ein Verstehen des Fremden entwickeln. Auch dieses Fremde der anderen Kultur ist ja ein Ergebnis menschlichen Handelns, ein historisch entstandener Sachverhalt, in dessen Entwicklungslinien die Menschen diejenigen geworden sind, die sie nun sind. Und da dies für jede Kultur gilt, sind andere Kulturen als menschliche Sinnverhältnisse im Prinzip auch für andere Menschen aus anderen Kulturen zugänglich.
Natürlich gibt es hier unterschiedliche Grade der Zugänglichkeit. Aber keine Kultur ist zwangsläufig für Menschen aus einer anderen Kultur verschlossen. Dies folgt schon aus dem Charakter der Kulturen als historische Gebilde. Die Geschichte zeigt uns, dass ein Verstehen des Fremden nicht selbstverständlich gelingt oder auch nur zu erreichen versucht wird. Aber dies erklärt sich nicht nur aus kulturellen Differenzen. Als historische Gebilde sind Kulturen aus sich selbst heraus keine statischen, ein für alle Mal festgelegten und kanonisierten Gebilde. Die Kanonisierung einer Kultur, die Festschreibung auf wörtliche Befolgung, wird gewöhnlich durch nicht rein kulturelle Eingriffe herbeigeführt, wie zum Beispiel durch die Sanktionierung von Abweichung durch Machtmittel.
Die Legitimation durch eine kulturelle Tradition wird in solchen Fällen instrumentalisiert, um die eigenen politischen oder ökonomischen Interessen durch eine kulturelle Umkleidung zu überhöhen und als Bewahrung der gegebenen Ordnung umzudefinieren. Der Rückgriff auf kulturelle Traditionen ist für solche Instrumentalisierungen darum besonders wirksam, weil er einen Rückgriff auf einen gemeinsamen Besitz an Einstellungen und Überzeugungen darstellt. Die innere Macht der Symbole wird im Dienst der äußeren Macht nicht nur genutzt, um die eigenen Interessen der Mächtigen durchzusetzen, sondern auch um ihre innere Dynamik zur Selbstbefestigung und -erneuerung gebracht. Die Geschichte lehrt uns allerdings, dass diese Dynamik sich nicht endgültig unterdrücken lässt und sie am - wenn auch noch so langwierig und mühselig erreichten - Ende wieder zur kulturellen Macht auf dem Wege zur "Selbstbefreiung des Menschen" wird. Dieses historische Wissen mag denn auch Ernst Cassirer zu seinem Vertrauen auf die Kraft der Vernunft - und das heißt in einem offenen Vernunftverständnis ja auch: auf die Macht der Symbole - ermutigt haben.
1 Im
größeren Zusammenhang werden die hier erörterten
Fragen dargestellt in: Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie. Eine
medientheoretische Grundlegung, München 2005.
2 Ernst Cassirer, Versuch über den
Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg
1996, S. 345.
3 Vgl. Heinrich von Kleist,
Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, München
1977(6), S. 320f.
4 Ernst Cassirer, Philosophie der
symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der
Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band
13, Hamburg 2002, S. 45.
5 Ernst Cassirer, Nachgelassene
Manuskripte und Texte. Band 1: Zur Metaphysik der symbolischen
Formen, Hamburg 1995, S. 17f.
6 Ernst Cassirer, Naturalistische und
humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: Ders.,
Erkenntnis, Begriff, Kultur, Hamburg 1993, S. 249f.
7 Vgl. Jens Heise, Präsentative
Symbole. Elemente einer Philosophie der Kulturen - Europa und
Japan. Sankt Augustin 2003, S. 191 - 195.