Am 22. Mai 2005 gab es in dem Örtchen Drocourt Freibier und Sauerkraut für alle. Staatspräsident Chirac wollte eine Woche später seine Franzosen an den Urnen sehen - sie sollten der Europäischen Verfassung zustimmen. Bürgermeister Bernard Czerwinsky hatte mit seinen Freunden von der Kommunistischen Partei wochenlang hart gearbeitet, um das zu verhindern. Sieben Flugblätter wurden gedruckt, in denen die unsoziale Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die Dienstleistungsrichtlinie und die Brüsseler Bürokratie am Pranger standen. Nun hatten sich alle ein Bierchen verdient. Vor einem Jahr hatte das dänische ‚Nee' und das französische ‚Non' zur EU-Verfassung den europäischen Einigungsprozess blockiert. Zwei Länder, die sich von Größe, Kultur, Wirtschaft und Bevölkerungsstruktur extrem unterscheiden, lösten Europas seit langem schwerste Krise aus. Ebenso wie im französischen Drocourt hatten auch in Urk, im niederländischen Flevoland, jeweils 90 Prozent gegen die EU-Verfassung gestimmt - Landesrekord.
Als in Drocourt das Freibier floss, stand "auf Urk" Dominee van der Wolf im schmucklosen Andachtsraum seiner Kirche vor vollen Bänken, wie jeden Sonntag. Er legte das Wort Gottes aus, zum anstehenden EU-Referendum äußerte er sich nicht. "Das ist nicht meine Aufgabe. Die Ablehnung kam von den Leuten selbst. Es hat natürlich mit dem Glauben an Gott und die Bibel zu tun. Ein wichtiger Grund war auch, dass hier durch Regeln aus Brüssel die Fischerei kaputt gemacht wird", erinnert er sich ein Jahr später.
Der 17.000 Seelen-Ort erhebt sich wie ein kleiner Hügel an der Ijsselmeerküste des flachen Polder-Lands. Hier ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint. Bis 1949 war Urk nämlich eine Insel. Stück für Stück wurde dem Meer der Ackerboden abgetrotzt und ließ das Fischerdorf mit dem Festland zusammenwachsen. Bis heute sprechen sie "auf Urk" ihren eigenen Dialekt, viele Frauen tragen züchtige bodenlange Röcke. Es gibt 22 Kirchen und weitere sind im Bau, denn die Hälfte der Einwohner ist jünger als 21 Jahre.
In Drocourt stehen zwei Kirchen. Der katholische Pfarrer hält aber selten Gottesdienst hier, weil er vier weitere Dörfer betreuen muss. Seit 1935 regieren die Kommunisten. "Ich bin für Europa", sagt der 52-Jährige Salah Kaci, ein ehemaliger Stahlarbeiter. "Zum Beispiel sollten die Steuern überall gleich hoch sein. Es kann ja wohl nicht sein, dass die Leute drüben in Belgien ihre Fluppen billiger einkaufen und sich von der französischen Kasse die Lungenkrebs-Behandlung bezahlen lassen."
Am 1. Januar 2002 machte die letzte Kokserei in der Region dicht, 400 Jobs waren weg. Schon in den 80ern hatten 100.000 ihre Arbeit in der Kohlegrube oder im Stahlwerk verloren. Heute ist jeder Fünfte hier arbeitslos. Das gute Leben war früher. Damals zog das boomende Geschäft mit Kohle und Stahl Arbeitsuchende aus ganz Europa an. Heute sehen die Menschen die Erweiterung der EU nach Osteuropa als Bedrohung für ihre Existenz. "Sie finden hier Ukrainer, die für 30 Euro im Monat Laster fahren", schimpft Kaci. "Kürzlich ist ein Spediteur deshalb verurteilt worden. Der Mindestlohn beträgt schließlich 1.500 Euro." Czerwinsky ergänzt: "Wenn es überall den gleichen Mindestlohn gäbe, könnten wir auch in Polen arbeiten. Dann wäre die Sache in Ordnung."
Nach Urk sind die ukrainischen Lasterfahrer bislang nicht gekommen, obwohl es hier viel mehr Arbeit gibt als in Drocourt. Dominee van der Wolf erklärt die Sache mit sanfter, freundlicher Stimme. "Der Urker will gerne Dinge teilen, aber nicht an seinem Wohnort." Seit 30 Jahren fahren sie jeden Sommer mit vollgepackten Bussen los, da sind Kleiderspenden drin und Nahrungsmittel - aber vor allem Kistenweise Bibeln. "Wir bringen sehr viele Bibeln in die Welt, vor allem zu christlichen Gemeinden in der Ukraine."
Fremde sind "auf Urk" nicht sonderlich gern gesehen. Natürlich arbeiten in den riesigen Fischverarbeitungsfabriken an der Ausfallstraße ein paar Ausländer. Es gibt auch einige moslemische Asylbewerber. "Aber die üben ihre Religion hier bestimmt nicht aus. Das sollte Urk auch nicht zulassen. Und es ist sicherlich weise von der Regierung, dass sie die Tradition hier respektiert", sagt sanft lächelnd der Pfarrer. Wenn es um Geschäfte geht, ist der Urker hingegen ein weltoffener Unternehmer: Sie haben die größte und modernste Fischauktionsanlage Europas bei sich zuhause gebaut - mehr als 100 Kilometer von der Nordseeküste entfernt. An der Wand flimmern auf großen Bildschirmen Fischsorten, Mengen und Einstiegsgebote, auf zwei riesigen Stoppuhren tickt die Zeit für eine Ladung Scholle in Urk und ein paar Kisten Kabeljau in Scheveningen. An den langen Tischen sitzen wettergegerbte Männer mit groben Gummistiefeln, die Kappen ins Gesicht gezogen, und starren konzentriert auf ihre Laptops. Modernste Computer sorgen dafür, dass der Hummer aus Hull, Ostengland, ebenso zum bestmöglichen Preis seinen Käufer findet wie der Plattfisch aus Urk. 80 Prozent der Nordseescholle wird von der Urker Flotte gefangen. Früher bestand sie aus 300 Schiffen. Die Fangbeschränkungen der EU-Kommission führten aber in den letzten Jahren dazu, dass sie halbiert werden musste. Noch immer liegt die Arbeitslosigkeit hier unter 3,5 Prozent. 70 Prozent der Urker leben direkt oder indirekt von der Fischerei. 80 Prozent des gesamten holländischen Fisches wird in den großen Fischfabriken am Ortsrand verarbeitet, die alle in Familienbesitz sind. Nach der Schulzeit stehen die jungen Mädchen aus dem Ort hier am Fließband und filettieren, portionieren, verpacken, was die großen Kühllaster von der Nordsee angeliefert haben. "Viel verdienen, jung sich trauen, viele Kinder kriegen", beschreibt ein Fischer das Lebensmotto der nächsten Generation. Doch die Profite sind drastisch gesunken, seit das Meer so wenig hergibt und strenge Brüsseler Gesetze sogar Schleppnetze verbieten. Die Bibel dagegen verlangt nur ein Fangverbot am Tag des Herrn.