Dass ihre Schulrefomen bei Gewerkschaften und Opposition auf wenig Gegenliebe stoßen, dürfte für Hessens Kultusministerin Karin Wolff mittlerweile zum Regierungsalltag gehören. Selten jedoch hagelte es so viel Kritik wie bei dem jüngs-ten Vorhaben der CDU-Politikerin. "Unterrichtsgarantie Plus" lautet das bundesweit bislang einmalige Projekt, das den Unterrichtsausfall an Hessens Schulen in den Klassen eins bis zehn praktisch auf Null herunter fahren soll und dies mit Hilfe von Externen. Was Wolff als den "nächsten Schritt zum Bildungsland Nummer eins" bezeichnet, ist in den Augen der Lehrerverbände "Etikettenschwindel" und Vertretung im "Billigverfahren". Von "Unterrichtsgarantie Murks" sprechen gar die Grünen im hessischen Landtag.
Dabei dreht sich die ganze Diskussion nach den Worten der Ministerin eigentlich nur noch um rund 2,5 Prozent, also um eine kleine Spitze des ausfallenden Unterrichts. Der Rest, so verkündet es zumindest Wolff immer wieder, ist bereits abgedeckt durch 3.500 neue Lehrer- und 2.100 neue Referendarstellen, die die Landesregierung seit 1999 geschaffen habe. 42 Millionen statt bislang 26 Millionen Euro will das Land künftig für Vertretungsmittel in die Hand nehmen, damit ab dem kommenden Schuljahr "kein Kind mehr vorzeitig nach Hause geschickt wird" - auch nicht, wenn eine Grippewelle grassiert oder Lehrer auf Klassenfahrten unterwegs sind. Ab dem dritten Tag soll künftig Fachunterricht erteilt werden. Dabei fließen 30 Millionen Euro direkt an die Schulen, die restlichen 12 Millionen gehen an die Schulämter, die den langfristigen Vertretungsunterricht sicherstellen sollen. Jede Schule soll bis August ihren individuellen Vertretungspool aus Externen zusammenstellen, zum Beispiel pensionierten Lehrern, Elternzeitbeauftragten, Lehramtsstudenten, aber auch Fachfremden, deren fachliche und pädagogische Qualifikation die Schulleiter sicher stellen sollen. 15 bis 25 Euro pro Stunde verdient nach Angaben des Kultusministeriums die Vertretungsperson abhängig von ihrer Qualifikation. Das Ministerium gebe den Schulleitungen Hilfen an die Hand, unter anderem Musterverträge, erklärt die Ministerin. "Kein Schulleiter muss zur Bürofachkraft mutieren."
Anregungen können sich die Schulen auch bei so genannten Best-Practice-Beispielen holen. Die Gerhart-Hauptmann-Schule in Wiesbaden ist eines von ihnen. Die Realschule mit ihren rund 700 Schülern setzt auf Jahrgangsteams, in denen eine Lehrkraft zuständig für den Vertretungsplan ihres Jahrgangs ist. Die Vertretung kann durch Fachunterricht, fachfremden Unterricht auf der Basis der Lehrpläne, Mehrfachaufsicht oder etwa Wochenplanarbeit erfolgen. Entscheidend ist, dass nur Lehrkräfte eingesetzt werden, die in dem entsprechenden Jahrgang auch unterrichten.
"Hier leisten Kolleginnen und Kollegen derzeit engagiert und aus Idealismus erhebliche Mehrarbeit - allerdings ohne Mehrarbeitsvergütung", berichtet Schulleiter Ehrenfried Schuran. "Mit der Unterrichtsgarantie Plus können wir diese Mehrarbeit künftig auch finanziell honorieren." Mit Vertretungskräften von außen muss nun auch Schuran erst "Erfahrungen sammeln". Der Realschuldirektor stellt derzeit einen Pool von zehn bis fünfzehn Leuten zusammen, die entweder als Aufsichtspersonen eingesetzt werden oder unter Anleitung unterrichten können oder ausgebildete Pädagogen sind. "Es melden sich auch hochinteressante Menschen, die mit Schule bislang nicht viel am Hut hatten", sagt der Deutschlehrer.
Während Kultusministerin Wolff es als Bereicherung ansieht, den Sachverstand Dritter von außen an die Schulen zu holen, fürchtet der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen, Jochen Nagel, um das Renommee seines Berufsstandes. Wie der Hessische Philologenverband und der Verband Bildung und Erziehung befürwortet auch die GEW garantierten Unterricht. Der Einsatz Dritter jedoch birgt nach Nagels Überzeugung erhebliche Probleme. "Stellen Sie sich einen Krankenhausdirektor vor, der sich aus medizinisch interessierten Laien, Medizinstudenten und Heilkundlern einen Pool zusammen stellt und das dann Operationsgarantie Plus nennt", spitzt Nagel die Kritik zu. Ohne den Kontext innerhalb einer Schule zu kennen, so der Gewerkschaftler, könne man noch nicht einmal Aufsicht führen, geschweige denn pädagogische Entscheidungen fällen: "Hier wird der Begriff Unterricht so herunter gefahren, dass es fast jeder machen kann."
Dass die Landesregierung nun das Schulgesetz ändern will, um die Mitbestimmungsverfahren für die Unterrichtsgarantie Plus zu vereinfachen, bringt für die GEW das Fass zum Überlaufen und ist ihrer Meinung nach ein Indiz, dass Wolffs Vorhaben offenbar "nicht gesetzeskonform" sei. "Mitbestimmung findet auch künftig statt", erklärt dagegen Realschuldirektor Schuran. "Allerdings bei Aufnahme in den Vertretungspool und nicht bei jedem Vertretungsanlass - eine solche Regelung wäre nicht praktikabel." Um die verbliebenen Ausfallstunden abzudecken, sind laut Nagel rund 3.000 zusätzliche Lehrerstellen notwendig. Die Pflichtstunden, betont er, müssten einen Anteil von zehn Prozent an Bereitschaftsstunden enthalten um das Problem zu lösen. Mehr feste Lehrerstellen jedoch bedeuten nach Wolffs Worten Mehrausgaben in Höhe von 250 Millionen Euro. Doch nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus organisatorischen Gründen habe man sich für einen externen Vertretungspool entschieden, versichert die Ministerin. "Er bietet mehr Flexibilität und die Möglichkeit, die individuelle Situation jeder einzelnen Schule zu berücksichtigen."
Für die Grünen steht fest, dass Wolff ihre Unterrichtsgarantie Plus "an die Wand gefahren hat". Statt den Schulen den Schwarzen Peter zuzuschieben schlägt der bildungspolitische Sprecher der Fraktion, Mathias Wagner, vor, die Schulen nur in den ersten beiden Tagen in die Pflicht zu nehmen um eine "qualitativ hochwertige Vertretung oder Betreuung" zu organisieren. Für den Fachunterricht ab dem dritten Tag sollen jedoch die staatlichen Schulämter die Verantwortung übernehmen. Auch die Schulexpertin der FDP-Fraktion Dorothea Henzler ist überzeugt, dass die Landesregierung die auf sie zurollende Protestwelle nicht länger ignorieren kann. Ihr Vorschlag: Die Schulen sollen selbst entscheiden können, ob sie ihre Vertretungsmittel für Honorarkräfte, qualifizierte Bildungsangebote, feste Lehrer oder Unterrichtsmaterial einsetzen. Gut ausgebildete Lehrer seien nicht durch Billigkräfte zu ersetzen, unterstützt Henzler die Position der Lehrerverbände. Die "Kritik und Verweigerungshaltung" vieler seiner Kollegen kann Schuran nicht nachvollziehen: "Ein Unterricht, der ganz ausfällt, erfüllt auch keine Qualitätsansprüche."