Das Parlament: Wie beurteilen Sie die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Nachbarschaftsvertrag von 1991?
Dieter Bingen: Bemerkenswerte Intensivierung der Beziehungen zwischen den Menschen und "Normalisierung" - das sind die entscheidenden Stichworte. Man kann natürlich fragen: Was ist normal im deutsch-polnischen Verhältnis? Mehr als 200 Jahre war sein Zustand eher schlecht. Nun ist eine gewisse Alltäglichkeit zu beobachten, die es vorher nicht gegeben hat, nicht geben konnte: Die wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen wurden sehr stark ausgeweitet, und vor allem auf der gesellschaftlichen Ebene ist ein sehr starkes Netzwerk von Freundschaften und Kontakten entstanden.
Das Parlament: Eine durchweg positive Entwicklung also?
Dieter Bingen: Auf der gesellschaftlichen Ebene weitgehend ja, auf der politischen Ebene gibt es aber doch einiges an historischen Belastungen, die sehr viel stärker wieder in die Tagespolitik hineingekommen sind, als vor 15 Jahren erwartet worden ist.
Das Parlament: Was meinen Sie konkret?
Dieter Bingen: Etwa die Vergangenheitspolitik, den Umgang mit der Geschichte und die Bewertung von historischen Ereignissen - darin zeigt sich dann doch eine sehr starke Komplexität und auch "Komplex-Beladenheit" in den Beziehungen.
Das Parlament: Zum Beispiel bei der Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen?
Dieter Bingen: Ja, unter anderem, aber auch eine Belastung aus der Situation heraus, dass Polen in den 1990er-Jahren ein "Mandant" gewesen ist und Deutschland sein "Anwalt". Das ist keine Beziehung auf gleicher Augenhöhe gewesen, sondern eine "klientelistische". Damals war sie unausweichlich, aber sie hat Folgen gehabt. Die positive Folge war, dass Polen nun in der EU und in der Nato ist; die negative ist, dass sich die Deutschen noch nicht an Polen als einen souveränen Partner gewöhnt haben, der auch eigene Auffassungen etwa in der internationalen Politik haben kann. Polen wiederum konnte sich noch nicht an seine eigene Rolle in diesem Europa gewöhnen. Dazu kommt eine starke Verunsicherung in Polen aufgrund des Gefühls , der Schwächere zu sein, aufgrund der historischen Diskussionen über die Einordnung der Vertreibung, die deutsche Geschichte und auch wegen der Infragestellung der vermeintlichen Rolle als Opfer. Die erwähnten Diskussionen - über die Vertreibung, über das kulturelle Erbe der Deutschen in Polen, über die Verbrechen, die von einzelnen Polen an Deutschen im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung begangen worden sind und schließlich die Jedwabne-Debatte (1941 verübten polnische Dorfbewohner von Jedwabne einen antijüdischen Pogrom; die Red.) - sind eine Infragestellung dieses Opfer-Stereotyps gewesen. Hier verrutscht also ein Selbstbild und die Angst wird groß - gerade im Kontext des Zentrums gegen Vertreibungen -, dass sich jetzt die Deutschen generell als Opfer stilisieren und die Polen als Täter abgestempelt würden. Das war in der deutschen Diskussion zwar nicht der Fall, aber in dieser Komplexität gibt es diese Angst. Sie verzerrt das Bild der Deutschen bis zu dem Bild von Erika Steinbach und der Fokussierung auf eine Person.
Das Parlament: Wird es nicht zum Teil auch für innenpolitische Zwecke in Polen gebraucht?
Dieter Bingen: Die innenpolitische Entwick-lung in Polen ist teilweise besorgniserregend. Wir beobachten eine Politik, die verstärkt polarisiert und in der das Freund-Feind-Denken sehr ausgeprägt ist. Das wirkt sich auch auf das außenpolitische Denken aus.
Das Parlament: Denken Sie dabei an die neue Regierungsmannschaft? Es gab ja in den vergangenen Monaten einige Irritationen...
Dieter Bingen: Es war schon vorher etwas kompliziert, da haben auch wir manchmal etwas versäumt. Derzeit gibt es in Warschau noch keine außenpolitische Konzeption aus einem Guss, alles ist in Bewegung, es gibt mehrere außenpolitische Zentren: zum einen das Außenministerium, dann den Premierminister und vor allem den Staatspräsidenten und seine Kanzlei. Diese Phase der Orientierungssuche macht sich auch in der Europapolitik bemerkbar. Das ist Innenpolitik mit außenpolitischen Auswirkungen auch auf Deutschland. Und das macht das politische Geschäft nicht einfacher.
Das Parlament: Kann man von einem Kurswechsel sprechen?
Dieter Bingen: Es gibt keinen festen Kurs. Man tastet sich vor; die deutsche Seite bemüht sich sehr, Vertrauen bei der neuen Regierung zu schaffen. Aber es ist bisweilen recht mühsam.
Das Parlament: Sehr umstritten ist in Polen die Ostsee-Gaspipeline. Verteidigungsminister Sikorski hat den deutsch-russischen Vertrag sogar mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglichen. Hat Deutschland hier Fehler gemacht?
Dieter Bingen: Das Erdgasgeschäft gehört nach meiner Meinung sicher zu den hinterfragbaren Entscheidungen. Es sind aber auch viele kleine Kommunikationsfehler gemacht worden, und die polnische Seite ist recht spät aufgewacht. Es gab schließlich keine Geheimverhandlungen. Der deutsch-russische Vertrag wird in Polen überbewertet, weil Polen in dieser Frage nur mit einem - historisch verständlichen - russischen Komplex reagiert. Diese Art von Fixierung auf historische Analogien schadet Polen selbst und verhindert womöglich, in Verhandlungen mit den Deutschen und im europäischen Kontext Einfluss zu gewinnen. Der Vergleich mit dem Hitler-Stalin-Pakt ist im Übrigen - von wem er auch immer bemüht wird - unerträglich. Es ist eine Rhetorik, die wir seit 20 Jahren nicht mehr kennen. Interessant ist übrigens, dass die Polen sehr viel souveräner, selbstbewusster und entspannter gegenüber ihren deutschen Nachbarn auftreten als Teile der regierenden Equipe und der Medien. Umfragen zeigen: Die Menschen in Polen halten die Deutschen für diejenigen in der EU, die ihnen am freundlichsten gesinnt sind.
Das Parlament: Welche Bedeutung hat der Besuch des "deutschen" Papstes auf das bilaterale Verhältnis? Prädident Kaczynski sprach in diesem Kontext vondeutsch-polnischer Versöhnung...
Dieter Bingen: Benedikt XVI. wurde natürlich als Papst aus Deutschland wahrgenommen. Der Empfang in Polen war überwältigend. Er hat die Herzen der Polen gewonnen - natürlich als Nachfolger und Vertrauter des geliebten Johannes Paul II., aber auch als Deutscher. Diese Situation hat Präsident Kaczynski aufgegriffen. Schon lange vor dem Besuch hat er vorausgesagt, das der Besuch dieses Papstes auf die deutsch-polnische Versöhnung mehr wirken könnte als jeder Politiker. Das gilt in Polen vielleicht noch mehr als in Deutschland, weil die katholische Kirche dort eine ganz andere Rolle spielt.
Das Interview führte Bernadette Schweda