Das Parlament: Lange wurde nicht mehr so aufgeregt über Schule diskutiert wie seit den Vorfällen der Berliner Rütli-Schule. Ist die Integration auf deutschen Schulhöfen gescheitert?
Sanem Kleff: Nein. Was sich an der Rütli-Schule gezeigt hat, ist erstens, dass Lehrer auf die Umgebung, in der sie unterrichten, vorbereitet werden müssen. Ein Drittel der Lehrer und Lehrerinnen an der Rütli-Schule wurde dorthin zwangsversetzt, vor allem aus dem Ostteil der Stadt, und sollte von heute auf morgen ohne jede interkulturelle Schulung in einem Einwandererbezirk unterrichten. Zweitens fehlten der Zusammenhalt des Kollegiums und eine Schulleitung - beides braucht eine Schule. Und drittens: Der Norden Neuköllns ist der benachteiligtste Bezirk Berlins - mit dem niedrigsten Bildungsstand, den meisten Hartz-IV-Empfängern, dem wenigsten Grün. Die Kinder dort werden unter extremen Umständen groß, und zwar seit Jahrzehnten. Dass es bis heute nicht gelungen ist, daran etwas zu ändern, ist mehr ein Armutszeugnis für die Stadtpolitik als für die Schule.
Das Parlament: Immer mehr Konflikte entzünden sich an dem muslimischen Hintergrund von Schülern. Das betrifft etwa die Weigerung der Mädchen, am Schwimmen teilzunehmen. Warum ist das so?
Sanem Kleff: Nichts davon ist neu - außer den Begriffen, mit denen diese Phänomene etikettiert werden. Ironisch könnte man sagen: Früher waren wir alle Türken - heute sind wir Muslime. Sprach man noch vor ein paar Jahren über die Probleme von bäuerlich geprägten Gastarbeiterkindern oder über Sprachdefizite, werden die Ursachen für dieses oder jenes heute vor allem in der Religion gesucht. Dabei tauchen Konflikte häufig nur scheinbar auf, weil jemand Muslim ist. Wenn ein Mädchen nicht zum Schwimmunterricht kommt, ist es vielleicht auch schlicht faul und nutzt die Religion als bequeme Entschuldigung. Oder es stammt aus einem Elternhaus mit einem traditionellen Frauenbild. Auch die viel dis-kutierte Gewalt gegen Frauen - bis hin zum so genannten Ehrenmord - war schon in den 80er-Jahren ein Thema, nur nicht als "islamisches Phänomen", das es in der Regel auch gar nicht ist.
Das Parlament: Was bedeutet das für die Schulen, die entscheiden müssen, inwieweit sie auf die Religion Rück-sicht nehmen?
Sanem Kleff: Ich würde raten, im Einzelfall hinzugucken. Natürlich muss Schule Rücksicht auf religiöse Gepflogenheiten nehmen. Muslimische Schüler haben das Recht, an hohen Feiertagen wie dem Opfer- und Zuckerfest frei zu bekommen. Eine Klasse muss auch nicht mitten im Ramadan Plätzchen backen. Aber: Wenn Grundschüler in der Fastenzeit nicht zum Sport kommen oder dauernd unkonzentriert sind, hilft zu wissen, dass Kinder vor der Geschlechtsreife gar nicht fasten müssen. Auch der schulische Jahreskalender muss bestehen bleiben können: Bundesjugendspiele, Klassenarbeiten und Abiturprüfungen dürfen selbstverständlich auch in der Fastenzeit durchgeführt werden.
Das Parlament: Heißt das, die Schulen sind zu tolerant?
Sanem Kleff: Jedenfalls lassen sich Lehrer häufig in die Irre führen. Schüler wie Eltern wissen, dass kein Argument so gut zieht wie die Religion - und sie wissen, dass Lehrer Wissensdefizite haben. Neulich hörte ich, dass ein Schüler sich geweigert hat, ein Porträt zu zeichnen, weil er Muslim ist. Ein Mädchen wollte "Effi Briest" nicht lesen, weil die eine Ehebrecherin sei. Beides ist grotesk - und bringt uns in die Nähe jener US-Staaten, in denen es christlichen Fundamentalisten geglückt ist, die Evolutionstheorie aus den Lehrplänen zu verbannen.
Das Parlament: Das heißt, die Lehrer sollten sich über den Islam schlauer machen?
Sanem Kleff: Ein gewisses Grundwissen ist natürlich hilfreich. Das kann aber nicht heißen, dass Lehrer den Koran auswendig lernen, um sich dann zwischen den zahllosen Interpretationen zu verheddern. Wichtiger wäre Empathie, um zu verstehen, auf welcher Ebene welches Problem liegt: auf der religiösen, kulturellen oder sprachlichen zum Beispiel. Nur mit Hilfe von Verständnis kann man im Einzelfall entscheiden, welcher Weg gangbar und richtig ist. Denn natürlich gilt als oberste Prämisse jeder Schule: Jeder muss sich wohlfühlen.
Das Parlament: Sie haben eine Reihe von Open-Space-Veranstaltungen zum Thema "Der Islam und ich" an Schulen organisiert. Wie sehen diese Diskussionen aus?
Sanem Kleff: Die meisten Fragen hatten mit dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu tun: Wie ist das mit der Jungfräulichkeit vor der Ehe? Warum darf Fatma nicht mit ihrem deutschen Freund ausgehen? Wie verhalte ich mich, wenn mich die Eltern meiner muslimischen Freundin einladen? Zweitens gab es ganz praktische Wissensfragen: Was bedeutet der Ramadan? Dürfen Muslime fischen? Ein drittes Thema war Politik und da vor allem das Verhältnis zwischen Israel und Palästina: Warum ist da Krieg, worum geht es? Muslimische Jugendliche stellten aber auch Fragen wie: Warum denken alle, dass wir Selbstmörder sind?
Das Parlament: Sind Sie unter den muslimischen Schülern auch Antisemitismus oder organisiertem Islamismus begegnet?
Sanem Kleff: Ja. Bei jeder Veranstaltung traten Schüler hervor, die eindeutig geschult waren. Im Anschluss stellte sich dann jedes Mal heraus, dass sie entweder in Hausaufgaben- oder Moscheevereine eingebunden sind, die dem islamistischen Spektrum zuzurechnen sind oder - noch häufiger - sich im Internet dem Islamismus zuwenden. Insbesondere Jugendliche, die sich stark in der Minderheit oder nicht akzeptiert fühlen, sehen in den Chatrooms islamistischer Organisationen offenbar eine Chance, sich artikulieren zu können. Die Gefahr, dass sie, wenn sie sich ohnehin schon benachteiligt fühlen, sich auch in der "Alle-Muslime-sind-Opfer"-Propaganda dieser Organisationen wiederfinden, ist groß.
Das Parlament: Wenn ein Lehrer oder Mitschüler mitbekommt, dass jemand in Kontakt zu islamistischen Organisationen steht, was sollte er tun?
Sanem Kleff: Auch da gilt wieder: Zunächst im persönlichen Gespräch versuchen zu erfahren, wer sich wie und warum engagiert. Wenn eine Schülerin mit einem eindeutig von einer Organisation vorformulierten Brief ankommt, der sie vom Schwimmunterricht befreien soll, sollte man zunächst mit ihr und ihren Eltern reden. Vielleicht stellt sich heraus, dass sie sich zu dick fühlt und das Formular nur als Hilfestellung nutzt. Wenn nicht, sollte aber die Schule bis hin zur Schulleitung, im Zweifel auch die Jugendhilfe, einbezogen werden. Man kann einem Kind auch schon mal eine Sechs geben oder es zum Amtsarzt schicken, wenn es nicht zum Unterricht kommt.
Das Parlament: Und wenn es darum geht, jemanden aus fundamentalistischen Kreisen herauszuholen?
Sanem Kleff: Ein einzelner Lehrer ist da vermutlich überfordert, was aber nicht heißt, dass er sich nicht Hilfe holen sollte von der Schulleitung oder in der Gemeinde. Die vom Islamismus ausgehende Gefahr ist der rechtsextremistischen sehr ähnlich. Auch hier gilt: Diejenigen, von denen potenziell eine Gefahr ausgeht, sind sehr wenige - und dennoch sollte man ein sehr waches Auge haben, um sie zu finden. Und selbst wenn man sie nicht findet, ist viel gewonnen, wenn es gelingt, die Zahl der Mitläufer möglichst klein zu halten.
Das Interview führte Jeannette Goddar