Was haben Xingui, Bobo und Xiaozi gemein? Wenn Sie es nicht wissen: Alle drei gehören zu den Gewinnern des rasanten Wirtschaftswachstums in China. Auch wenn es aus westlicher Sicht nicht so entscheidend sein mag, ob ein Chinese nun als Xingui der klassischen Oberschicht angehört, als Bobo der bürgerlichen Boheme oder dem Kleinbürgertum - Xiaozi, das war zu Zeiten der "Großen Kulturrevolution" noch ein Schimpfwort. Im aufstrebenden China sind derart feine Klassenunterschiede heute jedoch bedeutsamer denn je.
Für die Protagonistinnen in Annie Wangs neuem Roman "Peking Girls" ist Status alles: Sie sind eher Bobo, wie die Reporterin Niuniu, oder eindeutig Xingui, wie die neureiche Beibei, die als Präsidentin einer größen Künstleragentur leicht das Hundertfache des durchschnittlichen chinesischen Monatslohns verdient. Geschafft haben es beide: Mit gerade 30 Jahren besitzen sie eine Eigentumswohnung und ganze Kollektionen italienischer Designerhandtäschchen, sie haben keine Kinder und wechseln ihre jungen Liebhaber so oft wie ihre Prada-Schuhe. Die "Peking Girls" führen ein Jetset-Leben irgendwo zwischen Starbucks, Chatrooms und schnellen Affären, abstoßend oberflächlich und garantiert frei von tieferen Emotionen.
Insofern könnte man dem Buch einiges vorwerfen: Trivialität zum Beispiel, oder Realitätsferne. Denn das arme China, das China der vielen hundert Millionen Wanderarbeiter und Bauern, die auf dem Land für Hungerlöhne arbeiten und weder Renten- noch Krankenversicherung kennen, kommt in der Glitzerwelt dieser neureichen Stadtmädchen kaum vor. Selbst als es Reporterin Niuniu für einen Tag in diese andere Wirklichkeit verschlägt - im Buch füllt das gerade mal fünf Zeilen - ist es im Gespräch mit ihren Freundinnen kein Thema. Sie haben anderes im Kopf: wahlweise Männer und Partys, Männer und Bars oder Männer und Klamotten.
Das erinnert stark an die TV-Serie "Sex and the City". Und tatsächlich gibt es Parallelen: "Peking Girls" entstand wie sein amerikanisches Pendant aus einer Zeitungskolumne, die Annie Wang für die "South China Morning Post" schrieb. Genauso liest es sich auch weniger wie ein Roman, denn wie eine Aneinanderreihung banaler Alltagsgeschichten.
Trotzdem, es lohnt, an dem Buch dranzubleiben. Denn Annie Wang, 1972 in Peking geboren, blickt genau wie ihre Romanfigur Niuniu auf ihr Land aus der Perspektive der "Heimkehrerin". Wang hat im kalifornischen Berkeley Journalistik studiert und ging dann Anfang der 90er-Jahre wieder zurück in ihre Heimat. Dort stellte sie fest, auf welch unfassbare Weise es sich in dieser kurzen Zeit verändert hatte: Vergessen war das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, vergessen auch die "Große Kulturrevolution". Das Land befand sich im Aufbruch. Rekordwachstum. Handelsüberschuss. Exportboom. Fast über Nacht waren viele Menschen in Peking oder Shanghai unglaublich reich geworden. Und plötzlich fanden Wang und Niuniu auch hier, was sie in Amerika gerade zurückgelassen hatten: Frivolität, Oberflächlichkeit, Materialismus. Luxus-Weibchen wie Beibei.
Frauen wie die "Peking Girls" machen deutlich, wohin der Hardcore-Kapitalismus "made in China" eine Gesellschaft führt. In ein System, in dem auf der einen Seite Millionen von Menschen fast verhungern, weil sie an den Segnungen der Globalisierung nicht teilhaben können. In dem es aber in den Boomtowns auch möglich ist, als einfacher Angestellter blitzartig in einem Multi-Millionen-Dollar-Konzern aufzusteigen. Sprachlehrer werden in einem solchen System plötzlich zu Millionären, weil die neue Elite Englisch lernen muss, um Elite zu bleiben. Und wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder zum Studieren auf eine amerikanische Uni. Immer mehr Menschen fälschen ihre Herkunft, ihren Dialekt und ihre Diplome, um in Peking oder Schanghai "dazuzugehören" - und das in China, wo Abstammung und Geschichte über Jahrhunderte so wichtig waren.
Niuniu und ihre Freundinnen suchen inmitten dieser Brüche nach einer neuen Identität. Die Traditionen ihrer Eltern, die alten konfuzianischen Wertvorstellungen, die Religion, all das hat für sie keine Bedeutung mehr. Schablone ihres Lebens ist der Lifestyle des Westens. An ihm experimentieren sie herum, drücken ihm ihren eigenen, ihren chinesischen Stempel auf und entziehen sich so allen Konventionen. Sie sind Kosmopolitinnen - reich, verwöhnt und hedonistisch, die "erste Generation chinesischer Frauen, die es gelernt hat, sich selbst zu lieben", wie eine Freundin Niunius stolz verkündet. Die Grenzen zwischen Ost oder West, Kommunismus oder Kapitalismus, Konformismus oder Individualismus überschreiten sie dabei mühelos. Was zählt, ist der schnellste Weg nach oben.
Annie Wang gelingt mit "Peking Girls" ein nachdenklich stimmendes Porträt dieser neuen Elite, aber auch das eines nahezu beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs. Er zwingt inzwischen über eine Milliarde von Chinesen dazu, sich in rasantem Tempo neu zu definieren - immer angetrieben von der Hoffnung, einmal selbst ein Bobo zu sein.
Annie Wang: Peking Girls. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2006; 362 S.; 19,90 Euro.