Die Eindringlinge kamen durch das Internet: Funktionäre der liberalen Volkspartei in Schweden haben über Monate das Computernetz der regierenden Sozialdemokraten angezapft, Einblick in geheime Strategiepapiere genommen und mit diesem Wissen die Reaktionen der eigenen Truppe verfasst. Parteichef Lars Leijonborg entschuldigte sich persönlich beim sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Göran Persson für das "Fehlverhalten Einzelner". Der Liberale steht jedoch selbst im Verdacht, von den Schnüffeleien seiner Parteikollegen gewusst zu haben. "Watergate in Schweden!", titelten die Boulevardzeitungen in Anspielung auf den Diebstahl von vertraulichen Dokumenten aus einem Büro der Demokraten in den USA 1972.
Für Fredrik Reinfeldt, Spitzenkandidat der vier bürgerlichen Oppositionsparteien, kommt der Skandal, nur wenige Tage vor den Wahlen zum schwedischen Reichstag, denkbar ungelegen. Mit viel Mühe gelang es dem Vorsitzenden der Moderaten Sammlungspartei bereits vor mehr als einem Jahr, seine "Allianz für Schweden" zu schmieden, der neben den Konservativen auch die Liberalen, die Christdemokraten und das Zentrum angehören. Ihre notorische Zwietracht galt bislang als das größte Hindernis für eine Regierungsbildung der Bürgerlichen. Doch nun üben sich die einstigen Rivalen um die Gunst der Mächtigen in ungewohnter Harmonie.
Alle Beteiligten müssen Abstriche am eigenen Parteiprogramm in Kauf nehmen und Zugeständnisse machen, etwa in der Familienpolitik, der schwierigsten Frage in ihrer Beziehung. So wollen sich die Konservativen auch nach einem Regierungswechsel mit zwei bezahlten "Papa-Monaten" abfinden. Das in der bäuerlichen Landbevölkerung stark vertretene Zentrum wiederum verzichtet vorerst auf die Forderung, die zehn Kernkraftwerke im Lande bald vom Netz zu nehmen. Nicht einmal der Störfall im Atommeiler Forsmark vor einem Monat konnte den Kompromiss erschüttern. Dabei stand der Atomausstieg 35 Jahre lang ganz oben auf der Parteiagenda.
"Wir sind die Allianz für mehr Wachstum und Beschäftigung", betont Oppositionsführer Reinfeldt bei jeder Gelegenheit und sieht den Machtwechsel zum Greifen nahe. In Umfragen liegt die bürgerliche Allianz seit vielen Wochen knapp vor dem Linksbündnis aus Sozialdemokraten, Grünen und Linkspartei. Ein Fünftel der Wähler ist noch unentschlossen. Beobachter in Stockholm rechnen mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen bis zur letzten Minute, bei dem es am Ende auch auf die Tagesform der beiden Spitzenkandidaten ankommen könnte.
Fredrik Reinfeldt hat seiner Partei ein neues Image verpasst. Beim letzten Wahlgang vor vier Jahren warb sein Vorgänger Bo Lundgren recht einseitig um Unternehmer und Spitzenverdiener, gelobte die Steuern zu senken und kündigte umfassende Privatisierungen im Gesundheitswesen, im Pflegebereich sowie bei Schulen und Hochschulen an. Mit den Bürgerlichen käme die soziale Kälte über das Land, klagten sogleich die Sozialdemokraten. Lundgren verlor die Wahl 2002 und musste mit 20 Prozent Stimmanteil das schlechteste Ergebnis seit Jahren quittieren.
Unter Reinfeldt sind die "neuen" Moderaten eine weichere und gefühlvollere Partei geworden. Der junge Herausforderer spricht viel von der Solidarität und bemüht sich nach Kräften, die Schweden nicht mit allzu dramatischen Reformvorschlägen zu verschrecken. Die von Persson ausgelobten sozialen Wohltaten will er zum Großteil übernehmen und sogar noch etwas drauflegen. Seine größte Trumpfkarte sind aber die politischen Partner und das gemeinsame Programm, denn Perssons Sozialdemokraten stellen seit Jahren eine Minderheitsregierung, die von Grünen und Linkspartei nur geduldet wird.
Beide Parteien sollen auch künftig als Bündnispartner bei wichtigen Abstimmungen die Mehrheiten sichern, formulierten zuletzt aber eigene machtpolitische Ansprüche. Die Grünen fordern Ministerposten in der künftigen Regierung, weil sie wieder einmal mit der Angst in die Wahlen gehen, in hohem Bogen aus dem Reichstag zu fliegen. Die Zusammenarbeit mit der großen staatstragenden Sozialdemokratie hat die Partei erstickt und ihr Profil ausradiert.
Auch dem zweiten Partner, der Linkspartei, droht der Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Unter ihrem Vorsitzenden Lars Ohly, einem Alt-Kommunisten, bewegt sich die Partei seit einiger Zeit drastisch nach links und verprellt damit die mühsam umworbenen Jungwähler. Seine Vorgängerin Gudrun Schyman holte die Sozialisten einst mit flotten Sprüchen aus der Versenkung und machte sie zur drittstärksten Kraft im schwedischen Parlament. Sie brachte das Kunststück fertig, mit der Regierung zusammenzuarbeiten und gleichzeitig in der Opposition zu sein.
Nach einer Steueraffäre mit Schimpf und Schande davongejagt, wandelt Schyman inzwischen jedoch auf eigenen Pfaden. Ihre Frauenpartei ist mit dem Anspruch angetreten, das schwedische Parteiensystem kräftig durcheinanderzuwirbeln. Die "Feministische Initiative" streitet für gleiche Löhne, die faire Aufteilung der Kinderbetreuung, sowie einen besseren Schutz der Frauen vor der alltäglichen Gewalt.
Zwar haben fast alle etablierten Parteien den Feminismus für sich entdeckt. Die Initiative, der Tausende von Frauen aus allen gesellschaftlichen Kreisen angehören, wird dennoch nach Kräften ignoriert und von wichtigen Debatten im Radio und Fernsehen konsequent ausgeschlossen. Bislang dümpelt die Liste bei einem Stimmanteil von etwas mehr als einem Prozent. In ihrer Verzweiflung haben die Frauen Jane Fonda nach Schweden eingeladen. Die streitbare amerikanische Schauspielerin soll noch in letzter Stunde für den nötigen Glamour sorgen.
Solche Art Schützenhilfe haben die Parteistrategen der Sozialdemokraten nicht nötig. Sie verweisen auf die Erfolge ihres langjährigen Vorsitzenden Göran Persson, der in seiner ersten Amtsperiode als konsequenter Sparpolitiker die unpopuläre Sanierung des Landes angepackt habe. In der Tat kann seine Regierung derzeit glänzende Wirtschaftsdaten vorweisen. Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei rund sechs Prozent. Die Inflation ist gering und der Haushalt ausgeglichen. Finanzminister Pär Nuder durfte sich über ein Wirtschaftswachstum von 5, 5 Prozent im zweiten Quartal freuen. Von weiteren Zumutungen für die sozial Schwachen will Persson nach den bitteren Jahren der Gesundschrumpfung nichts wissen. Für Schulen, Altenpflege und Familienförderung soll es künftig sogar mehr Geld geben. Die Sozialdemokraten wollen die Kita-Gebühren für kinderreiche Familien senken und somit die ganztägige Betreuung verbessern. Auch das versprochene Wohngeld für Rentner sowie Zuschüsse beim Zahnersatz zielen auf die Mittelschicht.
Doch Persson muss sich fragen lassen, warum es in den zehn Jahren seiner Regierung keinen wirklichen Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt gegeben hat. Die offene Arbeitslosigkeit sei nur deshalb halbiert worden, weil Krankschreibungen und Frühpensionierungen im gleichen Zeitraum epidemisch zugenommen hätten, klagt Oppositionsführer Reinfeldt. Tatsächlich seien mehr als eine Million Schweden im erwerbsfähigen Alter ohne Beschäftigung. Viele Schweden ohne Arbeit, Frührentner und Langzeitkranke, tauchen in der Statistik gar nicht auf, das hat die Regierung selbstkritisch eingeräumt. Göran Persson sieht die Erklärung für die dramatisch steigenden Sozialkosten darin, dass das Arbeitsleben härter geworden ist und das Tempo angezogen hat.
Unterdessen profiliert sich Fredrik Reinfeldt mit einem eigenen Job-Modell beim Wahlvolk als der wahre Sozialpolitiker. Er will die Lohnnebenkosten senken, um mehr Jobs im Mittelstand zu schaffen. Arbeitgeber sollen mit Abschlägen dazu bewogen werden, Jugendliche einzustellen, die bislang in unbezahlten Praktika oder bei immer längeren Studienzeiten sinnlose Warteschleifen drehen.
Göran Persson bezweifelt die Regierungstauglichkeit des vor allem außenpolitisch völlig unerfahrenen Herausforderers. Doch der Ministerpräsident musste selbst in den vergangenen Jahren eine Serie von Niederlagen einstecken, seine Umfragewerte sind auf ein erschreckendes Popularitätstief gesunken.
Das Referendum zur Einführung des Euro ist kläglich gescheitert. Über die Europäische Verfassung wird gar nicht erst abgestimmt, denn es gäbe keine Mehrheit. Noch immer haben die Sozialdemokraten mit den politischen Nachbeben der Tsunami-Katastrophe zu kämpfen. Eine staatliche Untersuchungskommission übte massive Kritik am Krisenmanagement des Ministerpräsidenten. Persson muss sich vorwerfen lassen, er habe viel zu spät und gleichgültig auf die Krise reagiert und Tausende in Südostasien gestrandete Schweden im Stich gelassen. Persson widme sich lieber dem Ausbau seines zwei Millionen Euro teuren Gutshofes im idyllischen Sörmland, giften selbst Parteifreunde. Die Freude am Regieren ist der einstigen Lichtgestalt der europäischen Sozialdemokratie längst vergangen.