Abgeschieden, wie für Verschwörungen geschaffen, liegt der kleine Kurort Kreuth zwischen Tegernsee und Tiroler Grenze. Einige glauben ihn hier noch zu spüren, den Mythos vom "Kreuther Geist", Symbol für die oft beschriebene bayerische "Widerborstigkeit". Vor 30 Jahren hat die CSU hier bei einer Klausurtagung die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag aufgekündigt. Die Tragweite war enorm. Wenn alljährlich, mittlerweile im Januar, die CSU Bundestagsabgeordneten mit der Parteispitze zur Klausur in Wildbad Kreuth zusammenkommen, steht das nicht zuletzt auch für die Eigenständigkeit der CSU innerhalb der Unionsfraktion.
Er soll ein trüber Herbsttag gewesen sein, der 19. November 1976. Die Journalisten warteten in einem Hotel am Tegernsee auf den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß und den neu gewählten Landesgruppenchef Friedrich Zimmermann. Sie wollten an diesem Freitag berichten, mit welcher Strategie die CSU nach der dritten verlorenen Bundestagswahl in die neue Legislaturperiode starten wollte. Als die beiden erschienen, schickte Strauß Zimmermann vor. Er verkündete um 13.20 Uhr die spektakuläre Entscheidung: Mit 30 gegen 18 Stimmen, bei einer Enthaltung und einer ungültigen Stimme, entschied die CSU-Landesgruppe, in den 8. Deutschen Bundestag als eigenständige Fraktion mit einem eigenen Fraktionschef einzuziehen. Friedrich Zimmermann sollte diesen Posten übernehmen. Die 27-jährige Fraktionsgemeinschaft mit der CDU war nach zwölfstündiger Diskussion mit einem Schlag beendet.
Die Frage eines Journalisten, ob denn der Vorsitzende der CDU, Helmut Kohl, bereits Kenntnis von dem Beschluss hat, musste Strauß verneinen. Zimmermann schrieb später über seine Politik mit Strauß: "Er glaubte wirklich, dass man so ein Thema herunterspielen könnte - manchmal hatte auch Strauß [...] seine blinden Flecken." Sofort glühten die Telefonleitungen, umgehend wurden von den Nachrichtenagenturen Eilmeldungen herausgegeben. Helmut Kohl soll von einem Mitarbeiter informiert worden sein.
Strauß glaubte den perfekten Moment gewählt zu haben. Es schien, als wäre er eins mit der CSU gewesen, als stünde die Partei geschlossen hinter ihm. Doch nach dem Aufsehen erregenden Beschluss von Kreuth bröckelte die Basis. Strauß erklärtes Ziel, durch die Trennung von der CDU eine breitere Opposition gegen die sozialliberale Koalition im Bundestag zu schaffen, war offenbar nicht der einzige Grund. Die CSU verfolgte auch die Strategie, außerhalb Bayerns für eine bürgerlich-konservative Klientel wählbar zu werden. Damit hätte sie sich als direkte Konkurrenz zur CDU angeboten.
Die CDU unter Helmut Kohl drohte postwendend, bei Wahlen auch in Bayern anzutreten. Sie stellte ein Ultimatum, bis zur konstituierenden Sitzung des Bundestages am 14. Dezember 1976 in die Fraktionsgemeinschaft zurückzukehren. Kohl ließ verbreiten, die CDU sehe sich bereits in München nach einer Immobilie für den neuen bayerischen CDU-Landesverband um. Das verstärkte die Unruhe an der CSU-Basis. Die absolute Mehrheit schien in akuter Gefahr. Strauß' Strategie "Getrennt marschieren, vereint schlagen!" erzeugte vor allem im schwäbischen und fränkischen Raum erheblichen Widerstand. Der geschlossene bayerische Block zerfiel und Strauß geriet unter erheblichen Druck in der eigenen Partei. Schließlich lenkte er ein und die beiden Schwestern vereinten sich wieder.
Was wie ein Märchen endet, hätte auch anders ausgehen können. "Damals wie heute bin ich der festen Überzeugung, dass wir nach einem Bruch nie mehr zusammengekommen wären [...]. Die Geschichte der Bundesrepublik hätte eine völlig andere Entwicklung genommen", beschreibt Helmut Kohl in seinen Memoiren das Ausmaß des Beschlusses.
Friedrich Zimmermann hingegen verteidigt die Entscheidung von Kreuth: "Der Beschluss hätte nicht nur den zwei Teil-Unionen [...] genützt, sondern der deutschen Politik, der deutschen Bevölkerung schlechthin." Auch wenn die CSU zurückrudern musste, ging sie gestärkt aus der kurzzeitigen Trennung hervor.
Die Parität der Bayern innerhalb der Unionsfraktion und der bundespolitische Anspruch der CSU sind bis heute Zeugnisse des "Kreuther Geistes". Die Selbstständigkeit der CSU-Landesgruppe innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beinhaltet heute eigene Organe, finanzielle Autonomie, eine eigene Pressestelle und selbstständige Öffentlichkeitsarbeit. Wildbad Kreuth ist 1976 zum Symbol geworden, auch wenn seither ähnlich spektakuläre Entscheidungen aus der bayerischen Idylle ausblieben.