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Das Land steckt in einer Regierungskrise - niemand will die Loslösung des Kosovos verantworten
Überraschend ist es nicht, dass Serbien ausgerechnet in den für das Land so wichtigen Wochen der Entscheidung im Streit um das Kosovo in eine Regierungskrise geraten ist. Die Abtrennung der formal zu Serbien gehörenden Provinz wird in Belgrad seit Jahren erwartet. Realistische Beobachter rechnen schon seit dem Luftkrieg der Nato gegen das Jugoslawien von Slobodan Milosevic im Jahr 1999 damit. Seit fast ebenso langer Zeit, zumindest aber seit Milosevics Sturz im Oktober 2000, wird in Belgrad vermutet, dass keine der demokratischen Parteien an der Macht sein wolle, wenn das von Serbien beanspruchte, aber der Kontrolle des serbischen Staates entglittene Gebiet in die Unabhängigkeit übergeht. Niemand, so heißt es, wolle vor dem serbischen Volk (und später in den Geschichtsbüchern) als Ministerpräsident in den Wochen des Verlustes der Provinz dastehen. Eine Regierungskrise ist nun tatsächlich da - allerdings aus einem Anlass, der nur mittelbar mit der Entscheidung über einen neuen völkerrechtlichen Status für das Kosovo in Zusammenhang steht und so von niemandem erwartet wurde.
In allen Staaten Südosteuropas ist eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für den Beitritt zur EU. In Serbien wollen laut Umfragen mehr als 70 Prozent ihr Land als Mitglied sehen. Die reformorientierten Eliten feiern daher jeden noch so kleinen Zwischenschritt auf dem Weg nach Brüssel als einen Erfolg, doch die EU prüft die Fortschritte der Bewerber streng. Im Falle Serbiens ist eine Umkehrung dieses Verhältnisses eingetreten: Es ist Serbien - jedenfalls der Ministerpräsident Vojislav Kostunica -, das ein Kooperationsabkommen, welches Brüssel von sich aus angeboten hat, strikt ablehnt, während die EU um den Balkanstaat wirbt. Kostunica begründet seine in aggressiver Form vorgetragene Haltung mit der Rolle, die der EU bei der nahenden Unabhängigkeit des Kosovos zukommt. Denn es ist im wesentlichen die EU, die danach die weitere Demokratisierung des neuen Staates überwachen soll. Serbien könne aber nicht mit einer politischen Einheit einen Vertrag unterzeichnen, die dem eigenen Land einen Teil des Territoriums entreißen will, argumentiert Kostunica. Die EU hat die Unterzeichnung vergangene Woche vertagt.
In seiner eigenen Regierung ist Kostunica, der sich den Posten des Ministerpräsidenten nur durch äußerst rücksichtsloses Verhandlungsgeschick erworben hat, mit dieser Sichtweise jedoch in der Minderheit. Seine Demokratische Partei Serbiens (DSS) ist in der Belgrader Dreiparteienkoalition nur die mittlere Kraft, umrahmt von der im Parlament deutlich stärkeren Demokratischen Partei (DS) des Staatspräsidenten Tadic sowie der mit ihr eng verbundenen wirtschaftsliberal geprägten Gruppierung G17Plus. Tadic wendet sich zwar öffentlich ebenfalls gegen die Unabhängigkeit des Kosovos, betreibt hinter verschlossenen Türen aber eine umsichtigere Politik - er hat erkannt, dass eine Wiedereingliederung des Kosovos in die serbische Verfassungsordnung letztlich nicht im Interesse seines Landes ist und sich gegen die politische Realität zudem nicht viel ausrichten lässt. Tadic weigert sich deshalb, die europäische Zukunft des Landes mit der Kosovo-Frage zu verknüpfen, wie dies Kostunica getan hat. Denn ein derart realitätsfernes Junktim - kein EU-Beitritt ohne Kosovo - würde es Serbien auf unabsehbare Zeit unmöglich machen, sich weiter an die europäischen Strukturen anzunähern, um eines Tages als Vollmitglied der EU beizutreten.
Diese rationale Haltung wird vom Westen begrüßt. Nach seinem Wahlsieg im Stichentscheid der serbischen Präsidentenwahl gegen den Radikalenführer Tomislav Nikolic erreichten Tadic Gratulationen aus Washington, Brüssel, London, Berlin und anderen Hauptstädten. Doch der westliche Optimismus, der sich zum Teil mit der Hoffnung verbindet, Tadics neue Stärke könne seine DS dazu befähigen, nach möglichen Neuwahlen zum Parlament auch ohne Kostunica eine Regierung zu bilden, ist überzogen. Denn Tadics Sieg bei der Präsidentenwahl hat an den Verhältnissen im Belgrader Parlament - weder den jetzigen noch den zu erwartenden - nichts geändert. Es ist nicht abzusehen, dass die Zusammensetzung der serbischen Volksvertretung deutlich anders sein wird, wenn es wie von einigen Beobachtern vermutet noch im Mai zu vorzeitigen Wahlen kommt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird auch dann die Serbische Radikale Partei die meisten Abgeordneten stellen, gefolgt von Tadics DS. Kostunicas Demokratische Partei Serbiens, obschon deutlich geschwächt, zöge wohl ebenfalls ins Parlament ein. Zuzutrauen ist dies auch der Liberalen Partei von Cedomir Jovanovic sowie G17Pus und der Sozialistischen Partei Serbiens, die einst von Milosevic geführt wurde, heute aber am Rande der Bedeutungslosigkeit steht. Da die DS des Präsidenten keinesfalls ein direktes Bündnis mit den Radikalen eingehen wird, dürfte sie, wenn sie keine Minderheitsregierung bilden will, wieder auf den renitenten Königsmacher Kostunica angewiesen sein. An der parteipolitischen Arithmetik in Serbien wird sich daher auf absehbare Zeit nicht viel ändern.