Belgien gilt mit seinen drei Sprach- bzw. Kulturgemeinschaften sowie mit seinen drei Wirtschaftsregionen oft als Beispiel für ein friedliches Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaftsstruktur. Wer allerdings in den vergangenen Monaten die belgische Politik verfolgt hat, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Tauglichkeit des belgischen Föderalismusmodells. Da streiten Flamen und Wallonen seit Jahren - und seit den Parlamentswahlen vom Juni 2007 besonders heftig - über ihre Vorstellungen zur Zukunft des belgischen Staates und setzen die Einheit des Landes aufs Spiel. Die deutschsprachigen Belgier im Osten des Landes sind bei diesem Streit nur Zaungäste, beobachten die Entwicklung jedoch mit großer Besorgnis. Schließlich hat die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) im Laufe der vergangenen 30 Jahre eine hochrangige Autonomie erlangt, die beim Auseinanderbrechen des belgischen Staates in Frage gestellt werden könnte.
Was genau ist die DG, und welche Rolle spielt sie im belgischen Föderal- bzw. Bundesstaat? In Belgien hat der Begriff "Gemeinschaft" eine eigene Bedeutung. In dem kleinen Land leben Flamen, Frankophone bzw. Wallonen und Deutschsprachige. Jede der drei Sprachgruppen bildet eine Gemeinschaft: die Flämische, die Französische und die Deutschsprachige Gemeinschaft. Es bleibt allerdings nicht bei einem losen Verbund; diese Sprach- bzw. Kulturgemeinschaften sind gliedstaatliche Einheiten wie die Bundesländer in Deutschland und haben zum Teil weit reichende Befugnisse. Neben den drei Gemeinschaften existieren drei Regionen: die wallonische, die flämische und die Region Brüssel-Hauptstadt. Regionen und Gemeinschaften sind nicht deckungsgleich und jeweils für andere Aufgabenbereiche zuständig. Darüber hinaus sind Flamen und Frankophone unterschiedlich organisiert: So haben die Flamen die Institutionen von Flämischer Gemeinschaft und Flämischer Region fusioniert, während die Frankophonen einen Großteil der Zuständigkeiten der Französischen Gemeinschaft auf die Wallonische Region übertragen haben. Man spricht deshalb von asymmetrischer Zweigliedrigkeit. Diese macht das belgische Staatssystem komplex, ist aber notwendig, um das friedliche Zusammenleben der beiden großen Volksgruppen zu gewährleisten.
Wie kam es zu dieser Aufteilung bzw. zur Föderalisierung? Als Belgien 1830 durch die Loslösung vom Vereinigten Königreich der Niederlande gegründet wurde, war das Land ein Einheitsstaat. Französisch war lange Zeit die einzige offizielle Sprache, und alle höheren Verwaltungspositionen waren von der frankophonen Bourgeoisie besetzt. Die Flamen - von der Bevölkerungszahl her gesehen in der Mehrheit - mussten lange für ihre Rechte und die offizielle Anerkennung ihrer Sprache und Kultur kämpfen. Mit der Festlegung der Sprachengrenzen im Jahr 1963 wurde der Grundstein für den Föderalisierungsprozess gelegt, der in den 1970er Jahren einsetzte. In diesem Prozess wurde das zweigliedrige Staatssystem, bestehend aus Gemeinschaften und Regionen als gliedstaatliche Einheiten, erfunden. Die Sprachgemeinschaften sind für alle kulturellen und personenbezogenen Angelegenheiten zuständig. Dazu gehören Kultur, Medien, Sport und Jugend (kulturelle Angelegenheiten) sowie Sozialwesen, Jugendhilfe, Familien, Senioren, Behindertenpolitik, Teile des Gesundheitswesens und Bildungspolitik (personenbezogene Angelegenheiten). Die Regionen sind für territoriale Angelegenheiten wie Raumordnung, Verkehrswesen (u.a. Straßenbau), Umweltschutz, Landwirtschaft, ländliche Erneuerung, Wohnungsbau, Wasser- und Forstwesen, Energie, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie die untergeordneten Behörden (Aufsicht und Finanzierung der Gemeinden und Provinzen) zuständig.
Um zu verstehen, warum man ein zweigliedriges Staatssystem mit Regionen und Gemeinschaften gewählt hat, anstatt sich mit einer gliedstaatlichen Ebene zu begnügen, muss man den Blick nach Brüssel richten. In der offiziell zweisprachigen Hauptstadt leben über 80 Prozent Frankophone, während die Flamen gerade 15 Prozent ausmachen. Dabei ist Brüssel historisch gesehen eine flämische Stadt, denn bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Flamen in der Überzahl. Dies erklärt, warum Flamen und Wallonen bis heute nahezu unvereinbare Standpunkte zur Hauptstadt einnehmen. Während die Flamen sich auf die Vergangenheit berufen und "ihre" Stadt für sich beanspruchen, bestehen die Französischsprachigen auf die Zweisprachigkeit und Eigenständigkeit Brüssels. Dieser Widerstreit wird durch das zweigliedrige Staatssystem aufgelöst: So bilden die 19 Gemeinden um Brüssel in territorialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten eine eigene Region, während die personenbezogenen und kulturellen bzw. sprachlichen Aspekte entweder von der französischen oder von der flämischen Gemeinschaft geregelt werden - je nachdem, zu welcher Gemeinschaft sich Bürger oder Einrichtungen bekennen. Dieser Kompromiss ist erst nach vielen Jahrzehnten zustande gekommen und ein Paradebeispiel des vielerorts gelobten compromis à la belge.
Das Gebiet um Eupen, Malmedy und St. Vith wurde dem belgischen Staat 1919 als Kriegsentschädigung von Deutschland zugesprochen. Ungeachtet ihrer Größe (854 km(2)) und ihrer geringen Anzahl von Einwohnern (72.000) besitzt die DG eine Autonomie, die in Europa und sogar weltweit ihresgleichen sucht. So wie die Flämische und die Französische Gemeinschaft ist auch die DG zuständig für alle kulturellen und personenbezogenen Angelegenheiten auf ihrem Gebiet, d.h. in den neun deutschsprachigen Gemeinden im Osten Belgiens. Auch wenn die Einwohnerzahl der nationalen Minderheit gerade mal 0,7 Prozent der belgischen Bevölkerung ausmacht, fällt sie kulturell gesehen mit einem Drittel ins Gewicht. Die DG verfügt in Eupen über ein eigenes Parlament mit 25 Mitgliedern und eine Regierung mit vier Ministern. Auch die Außenpolitik der Bereiche, in denen sie zuständig ist, kann sie eigenmächtig gestalten. Alle regionalen (also überwiegend territorialen) Kompetenzen auf dem Gebiet der DG werden von der Wallonischen Region ausgeübt.
Dass die DG über eine so weit reichende Autonomie verfügt, ist in erster Linie nicht ihr selbst zuzuschreiben, sondern der Tatsache, dass Wallonen und Flamen im Zuge der Föderalisierung des Landes nach und nach Kompetenzen von Brüssel in die Regionen und Gemeinschaften verlagert haben. Die Zuständigkeiten, die dabei der Französischen und Flämischen Gemeinschaft übertragen wurden, hat man auch der DG zugestanden. Dieser Föderalisierungsprozess ist noch nicht beendet: Es sind vor allem die Flamen, die - vor dem Hintergrund einer blühenden Industrie und eines hervorragenden Schulsystems - die Regionalisierung weiterer Kompetenzen einfordern.
In der DG wird dieser Prozess wachsam beobachtet. Man ist sich sehr wohl bewusst, dass man ihn nicht entscheidend beeinflussen, geschweige denn bestimmen kann. Wohl aber gilt es, zum richtigen Zeitpunkt die Forderung nach Gleichberechtigung zu erheben. Die Autonomie, wie sie der DG zugestanden wurde, ist zwar weit reichend, allerdings nicht maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der Ostbelgier, da sie in erster Linie ein Produkt der Verhandlungen zwischen Flamen und Wallonen ist. Doch der belgische Staat hat vorgesorgt und in seiner Verfassung einen Artikel verankert, der es ermöglicht, auf dem Verhandlungsweg Zuständigkeiten von der Wallonischen Region an die DG zu übertragen. Dreimal ist dies bereits geschehen. So ist man in Eupen nun auch für den Denkmal- und Landschaftsschutz, die Beschäftigungspolitik und die Finanzierung bzw. die Aufsicht über die neun deutschsprachigen Gemeinden zuständig. Weitere Kompetenzen wie Raumordnung und Wohnungsbau sollen nach Ansicht der Deutschsprachigen folgen.
In vielerlei Hinsicht kann die DG als Mini-Europa bezeichnet werden. Die meisten deutschsprachigen Belgier kommen schon früh mit einer Vielzahl von Sprachen in Berührung. Während Deutsch die Amtssprache ist und sowohl in den Schulen, Verwaltungen und Gerichten als auch in den meisten Familien gesprochen wird, sind große Teile der Bevölkerung mehrsprachig. Französisch ist bereits im Kindergarten Pflichtfach, und in nicht wenigen Sekundarschulen wird der Fachunterricht (ausgenommen die Sprachkurse) bis zur Hälfte auf Französisch abgehalten. Spätestens zu Beginn der Sekundarschule - also mit etwa 13 bis 14 Jahren - kommen die Schülerinnen und Schüler mit der zweiten Fremdsprache Englisch in Kontakt. Nicht wenige wählen zusätzlich noch Niederländisch als dritte Fremdsprache. Mehrsprachigkeit ist sozusagen ein Muss. Sie ist auch der Grund, warum viele Ostbelgier auf dem Arbeitsmarkt der Nachbarregionen und -länder erfolgreich sind, vor allem im Innern Belgiens, in Deutschland und in Luxemburg.
Als östlichster Teil der Wallonischen Region grenzt die DG im Norden an das Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande, im Osten an Deutschland und im Süden an Luxemburg. Damit liegt die DG am Schnittpunkt zweier großer Kulturkreise: dem romanischen und dem germanischen. Dieses Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen spiegelt sich in der Weltoffenheit und im interkulturellen Verständnis der Bevölkerung wieder. Darüber hinaus wissen die Menschen diesen Umstand auch wirtschaftlich zu nutzen: Sucht ein wallonisches oder flämisches Unternehmen nach Handelspartnern im deutschsprachigen Ausland, sind es oft die Ostbelgier, die als Vermittler auftreten. Das gilt auch umgekehrt, etwa, wenn sich ein deutschsprachiges Unternehmen in Belgien niederlassen will und dafür Ansprechpartner sucht.
Für die kleine DG ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Nachbarregionen und -staaten unabdingbar. So ist es sinnvoll, spezielle Ausbildungen in Zusammenarbeit mit dem deutschen Grenzland um Aachen zu organisieren. Auch in Bereichen wie Kultur, Wirtschaft oder Soziales kooperiert die DG mit ihren innerbelgischen, aber auch deutschen, niederländischen und luxemburgischen Nachbarn. Diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit wird in zwei Verbünden institutionalisiert: in der Euregio Maas Rhein sowie in der Großregion Saar-Lor-Lux-Rheinland-Pfalz-Wallonien-DG.
Die Euregio Maas Rhein umfasst die belgischen Provinzen Limburg und Lüttich, die niederländische Provinz Limburg, die Regio Aachen e.V. (entspricht dem Territorium des ehemaligen Regierungsbezirks Aachen) sowie die DG. Sie wurde 1976 gegründet und ist eine der ältesten Euregios. Ursprünglich galt es, gemeinsam die wirtschaftlichen Probleme - Kohleabbau und Stahlindustrie befanden sich in Lüttich, Aachen und in Limburg im Niedergang - anzugehen. Schnell wurde die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf andere Bereiche ausgebaut. Heute ist die Euregio Maas Rhein für viele Grenzregionen ein Vorbild. Nicht selten werden im Dreiländereck Pilotprojekte gestartet. Die DG ist in diesem Verbund zwar der kleinste Partner, hat aber die hochrangigsten Kompetenzen.
Während in der Euregio Maas Rhein rund 3,9 Millionen Einwohner leben, umfasst dieGroßregion Saar-Lor-Lux-Rheinland-Pfalz-Wallonien-DG zwölf Millionen Menschen. Wurde in der Vergangenheit meist auf bilateraler Ebene kooperiert, umfasst das neue Interreg-Programm für die Zeitspanne 2007 bis 2013 erstmals die gesamte Großregion. Als erste Region überhaupt präsentierte sich die Großregion als Europäische Kulturhauptstadt 2007. Zahlreiche kulturelle Initiativen von Eupen bis Luxemburg und von Mainz bis Lüttich mobilisierten tausende Menschen und konkretisierten den Willen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.
Die Deutschsprachige Gemeinschaft: Europa im Kleinen? Als winzige Grenzregion mit Gesetzgebungshoheit, eingebettet in die beiden Verbünde Euregio Maas Rhein und Großregion, kann man die DG durchaus als eine Art Mini-Europa bezeichnen. Hier wird im kleinen Rahmen das realisiert, was zur täglichen Herausforderung des großen Europas gehört. An der Scheide zwischen germanischem und romanischem Kulturkreis weiß man, was es heißt, Kooperationen einzugehen und Brücken zu bauen. Nicht umsonst wurde die DG deshalb 2004 von der Organisation TERY (The European Region of the Year) gemeinsam mit der autonomen Region Madeira (Portugal) zur "Europäischen Region des Jahres" proklamiert.