FRONTEX
Die Situation an den Außengrenzen der EU ist weiterhin gespannt. Viele Länder befürchten eine neue Flüchtlingswelle. Sie fordern, die Lasten unter den Mitglied- staaten gerechter zu verteilen sowie einen stärkeren Einsatz der EU-Agentur
Für den Franzosen Jacques Barrot war es seine Antrittsrede: Am 23. April wurde er von den EU-Abgeordneten ins Plenum zitiert, um die Frage zu beantworten, wie es mit der Grenzschutzagentur Frontex voran geht und ob die EU für den erwarteten Frühjahrsansturm von Bootsflüchtlingen gerüstet sei. Barrot ist zwar eigentlich für das Verkehrsressort zuständig. Doch seit sich Justiz- und Innenkommissar Franco Frattini beurlauben ließ, weil er in Italien neuer Außenminister werden will, betreut sein französischer Kollege das Amt kommissarisch mit.
Einen Tag zuvor schickte Kommissionspräsident Jose-Manuel Barroso eine kurze Erklärung in die Redaktionsstuben, in der er ankündigte, "Effizienz und Kohärenz der Kommissionsarbeit" sei am besten gedient, wenn Barrot bis zur Neuwahl der Kommission in Herbst 2009 weiter das Innenressort betreue und Italien einen neuen Verkehrskommissar nach Brüssel schicke. Der noch amtierende italienische Ministerpräsident Romano Prodi soll empört gewesen sein, weil er aus der Zeitung von dem Schachzug erfuhr. Ob Berlusconi informiert war und zustimmte, ist nicht bekannt. Allerdings sieht der EU-Vertrag vor, dass der Kommissionspräsident bei der Ressortzuteilung das letzte Wort hat.
Bei Barrots erstem Plenarauftritt in seiner neuen Rolle wurde deutlich, dass der Kontrast zu Frattini nicht größer sein könnte. Der knochentrockene, leicht mürrisch wirkende Franzose, der sich mit englischen Fachausdrücke schwer tut, beerbt den weltgewandten jugendlich wirkenden Italiener, der fließend in drei Sprachen parlieren kann. Inhaltlich beschränkte sich Barrot bei seiner Antwort auf die Parlamentsanfrage auf technische Details und ging auf die humanitäre Katastrophe an den Küstengrenzen der Union mit keinem Wort ein.
Das Budget der Grenzschutzagentur Frontex, so Barrot, habe sich im Jahr 2008 auf 70 Millionen Euro verdoppelt. Davon seien 31 Millionen für den Schutz der Meeresgrenzen vorgesehen, die Einsätze könnten also länger durchgehalten werden als im vergangenen Jahr. 2008 sei ein "Testjahr?", in dem Frontex beweisen müsse, dass es seinen Aufgaben gewachsen sei.
Mit dem größeren Budget könne Frontex dringend benötigte Ausrüstungsgegenstände wie Radar- oder Nachtsichtgeräte erwerben. Transportmittel müssten aber nach wie vor die Mitgliedstaaten bereitstellen. Dieses Jahr sollen 18 Flugzeuge, 20 Helikopter und 105 Boote bereitstehen. An Brennpunkten des Flüchtlingsdramas, wie der italienischen Insel Lampedusa, Malta oder den Kanarischen Inseln, soll Frontex mittelfristig ständige Einsatzzentren errichten. Als "große Aufgabe seiner Amtszeit" kündigte Barrot eine Mitteilung über alle Aspekte der Einwanderung an.
Genau daran fehlt es bislang nach Einschätzung vieler Abgeordneter. Der maltesische Abgeordnete Simon Busuttil (EVP), dessen Land eine neue Flüchtlingswelle befürchtet, verlangte ein Ende "der Heuchelei, dass wir einerseits die Toten betrauern und andererseits die Mitgliedstaaten mit ihrem Problem allein lassen." Noch immer sei nicht geklärt, wie sich Frontex in fremden Hoheitsgewässern verhalten solle. Vergangenes Jahr waren Flüchtlinge tagelang an Fischernetze geklammert im Meer getrieben, weil die libyschen Behörden sich weigerten, in ihren eigenen Hoheitsgewässern tätig zu werden. Der spanische Abgeordnete Claudio Fava (PSE) forderte deshalb, das Seerecht so zu ändern, dass Frontex in solchen Fällen helfen könnte.
Hauptsächlich spanische und griechische Redner beteiligten sich an der Debatte, da ihre Länder von dem Problem besonders betroffen sind. Sie alle forderten die Kommission auf, die Lasten gerechter unter den Mitgliedstaaten zu verteilen. Das aber stößt auf den Widerstand derjenigen Länder, die keine südliche Küste zu bewachen haben. Deutschland zum Beispiel ist der Auffassung, es habe jahrelang die Probleme an der Ostgrenze zu Polen allein schultern müssen, ohne dass Italien, Griechenland oder Portugal sich an den Lasten beteiligt hätten.
Der Linkspartei-Abgeordnete Tobias Pflüger forderte als einziger Redner, Frontex abzuschaffen. "Durch den Einsatz von Grenzpatrouillen sterben noch mehr Menschen, weil die Fluchtwege immer länger und gefährlicher werden. Wir wollen, dass den Flüchtlingen geholfen wird!", sagte er. Die liberale Abgeordnete Sarah Ludford warnte davor, die Flüchtlinge zu kriminalisieren. "Die meisten haben zwar keine legale Aufenthaltsberechtigung, aber sie sind keine Kriminellen, wie es der Begriff Grenzpolizei suggeriert", kritisierte die Britin.
Während im Plenarsaal viele Redner nach einer ausgewogenen Flüchtlingspolitik verlangten, die die Lage in den Herkunftsländern, die Zusammenarbeit mit den Durchreisestaaten und Möglichkeiten legaler Einwanderung im Blick hat, einigten sich hinter den Kulissen Vertreter von Rat, Kommission und Parlament auf einen Kompromiss bei der Rückführungsrichtlinie. Aus Abgeordnetenkreisen verlautete, dass die Abschiebehaft in Ausnahmefällen, bis zu 18 Monate dauern kann, im Regelfall aber auf sechs Monate begrenzt wird. Die Richtlinie soll, wenn alles nach Plan läuft, in nur einer Lesung durchs Parlament gebracht werden - möglichst noch vor der Sommerpause.