BVerfG
Andreas Voßkuhle ist der Nachfolger von Winfried Hassemer als Vizepräsident
Am Ende gelang der SPD doch noch ein Coup. Monatelang war die Suche nach einem Nachfolger für Winfried Hassemer, den scheidenden Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, festgefahren. Die Union beharrte auf ihrer Ablehnung des Würzburger Professors Horst Dreier, dessen Position in der Stammzellendebatte den Konservativen in der Partei zu liberal anmutete - Dreier wollte den Embryonen die Menschenwürde absprechen. Die SPD ihrerseits hielt zunächst an ihrem Kandidaten fest, obwohl auch in ihren Reihen nicht jeder mit Dreiers relativierender Lehrmeinung zum Folterverbot glücklich war. Am 18. April schließlich zauberte die SPD einen Namen aus dem Hut, den bis dahin keiner auf der Rechnung hatte: Andreas Voßkuhle, frischgebackener Rektor der "Exzellenz"-Universität Freiburg, erhielt das Ticket nach Karlsruhe, mit der ziemlich sicheren Aussicht, 2010 Nachfolger des dann ausscheidenden Präsidenten Hans-Jürgen Papier zu werden.
Der parteilose Überraschungskandidat, am 25. April einstimmig vom Bundesrat gewählt, ist mit seinen 44 Jahren vergleichsweise jung für das hohe Amt. An seiner Qualifikation dürften gleichwohl kaum Zweifel bestehen. Er hat eine steile wissenschaftliche Karriere hinter sich: Mit 30 legte er an der Münchner Universität seine Promotion mit dem provokativen Titel "Rechtsschutz gegen den Richter" vor, seine Arbeit wurde ausgezeichnet, ebenso wie später seine Habilitationsschrift. Nach drei Jahren als Referent im bayerischen Innenministerium wechselte er 1998 an die Freiburger Universität, wo er ein Jahr später zum Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie berufen wurde; da war er Mitte 30.
Doch in seiner zwölfjährigen Karlsruher Amtszeit erwarten den mit einer Richterin verheirateten Professor nicht nur fachliche Herausforderungen. Der Zweite Senat, dessen Vorsitz er übernimmt, gilt als schwierig: Sehr viel häufiger als im vergleichsweise harmonischen Ersten Senat sind die acht Senatsmitglieder uneins - abweichende Meinungen in den Urteilen sind an der Tagesordnung. Das erfordert einen Vorsitzenden mit Integrationskraft - eine Eigenschaft, die Voßkuhle durchaus nachgesagt wird. Der künftige Verfassungsrichter freut sich auf seine neue Tätigkeit. "Ich wechsle von einem schönen Amt in das schönste Amt, das ein Staatsrechtler sich wünschen kann."
Ist der Streit um Dreier damit abgehakt? Es ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass sich die SPD bei passender Gelegenheit für die CDU-Blockade revanchieren wird. Unbeantwortet ist zudem folgende Frage: Ist Dreier wirklich über seine Haltung zum Folterverbot, zur Bioethik gestolpert - oder ist er womöglich Opfer eines Verfahrens zur Wahl der Verfassungsrichter geworden, das den Kandidaten zum Objekt degradiert? Denn eines ist nicht zu bestreiten: Die intransparente Verfahren der Richterkür, die in den Hinterzimmern von Parteigremien und Staatskanzleien ausgehandelt wird, sieht für den Kandidaten keinen aktiven Part vor. Er nimmt alles passiv entgegen: zunächst das - meist über die Presse transportierte - Interesse an seiner Person, dann seine Wahl, schließlich die Ernennungsurkunde des Bundespräsidenten. Was immer Dreier zum Folterverbot genau gemeint haben mag: Sobald er als Kandidat gehandelt wurde, hatte er keine Chance, ohne Folgeschäden das Wort zur eigenen Rechtfertigung zu ergreifen.
Freilich hätte ein Vorstoß zur Änderung des Wahlverfahrens schon deshalb wenig Chancen, weil die großen Parteien mit dem jetzigen System eigentlich ganz zufrieden sind. Union und SPD gestehen sich - durch die Zwei-Drittel-Hürde bei der Richterwahl im Bundesrat und im Wahlausschuss des Bundestags zum Kompromiss gezwungen - wechselseitig Besetzungsrechte für je die Hälfte der 16 Richterstellen zu. Hinter den Kulissen fädeln einige wenige "Richtermacher" die Personalie ein.
Dennoch brachte der Fall Dreier den Ruf nach mehr Transparenz bei den Richterwahlen in die Diskussion zurück. Nicht so rustikal wie in den USA sollte es sein, wo die Kandidaten öffentlich ins Kreuzverhör genommen werden, aber eben auch nicht so heimlichtuerisch wie in Deutschland. Der Kandidat sollte seine Position präsentieren dürfen, ohne jedoch einer peinlichen Befragung ausgesetzt zu werden, lautet ein Kompromissvorschlag.
Die Crux ist nur: Niemand weiß, ob das wirklich funktionieren würde. Denn so zutreffend die Kritik ist, so unbestreitbar ist es, dass alle Beteiligten mit dem jetzigen Wahlverfahren ganz gut gefahren sind. Nicht nur, weil die Richterwahlen über die Jahre für ein beachtliches Niveau beim richterlichen Personal gesorgt haben. Sondern auch, weil der diskrete Charme der Kandidatenkür das höchste deutsche Gericht aus dem politischen Streit weitgehend herausgehalten hat.
Denn eine andere Lehre aus dem Fall Dreier lautet: Wenn die Parteien die Besetzung des mächtigen Karlsruher Gerichts als Feld der öffentlichen Auseinandersetzung entdecken, droht die Politisierung des Gerichts. Zwar sind Richter immer auch politische Menschen, sie haben Weltanschauungen und manchmal auch Parteibücher. Wenn sie allerdings - öffentlich und damit für jedermann sichtbar - von einer Partei gegen den Widerstand einer anderen ins Amt gehievt werden, dann droht das Gericht in den Strudel der Parteipolitik zu geraten.
Und das wäre hoch riskant. Denn das Gericht bezieht einen Gutteil seines anhaltend hohen Ansehens in der Bevölkerung gerade aus seiner Ferne zur politischen Auseinandersetzung. Die 16 Richterinnen und Richter werden eben nicht mit dem tagespolitischen Gezänk identifiziert, das bei den Wählern so viel Überdruss auslöst. Auch der neue Vizepräsident sieht keinen Reformbedarf für das derzeitige Verfahren zur Wahl der Verfassungsrichter. Es habe sich "weitgehend bewährt. Das zeigt das
hohe Ansehen des Gerichts," so Voßkuhle. Wohlgemerkt: Das Ansehen des Gerichts als Institution. Denn eine besondere Pointe der Rezeption des so beliebten Karlsruher Gerichts ist, dass die Namen der Richter in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind.
Man sollte sich auch keine Illusionen machen: Mehr Transparenz heißt mehr Öffentlichkeit, und mehr Öffentlichkeit führt zu einer stärkeren Politisierung - mit unkalkulierbaren Risiken und Nebenwirkungen. Weshalb, bei allem demokratischen Bauchgrimmen, der Wahlspruch des klugen Computernutzers passen könnte: Never touch a running system.