Bei "Globalisierung" denkt man meist an die Verdichtung weltwirtschaftlicher Beziehungen und die wachsende informationelle Vernetzung der Welt. Zunehmend wird jedoch auch eine "soziale" Dimension der Globalisierung eingefordert, um den sozialen Ungleichheiten und Unsicherheiten zu begegnen, die mit wirtschaftlicher Globalisierung einhergehen. 1 Auf der Ebene der Nationalstaaten war der Wohlfahrtsstaat eine Antwort auf vergleichbare Folgeprobleme kapitalistischer Entwicklung. Können wir damit rechnen, dass sich eine ähnliche Entwicklung auf globaler Ebene wiederholt? Kann Sozialpolitik oder gar Wohlfahrtsstaatlichkeit - ähnlich wie die anderen Kerninstitutionen des Westens, Rechtsstaat, Markt und Demokratie - zu einem weltweiten Fanal werden? Oder bedeutet "Globalisierung", wie weithin angenommen, primär die Ausbreitung neoliberaler, ökonomistischer Denkweisen und Praktiken?
"Soziale Globalisierung" kann sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Im vorliegenden Beitrag fragen wir nach der unwahrscheinlichsten Form sozialer Globalisierung, die dem westlichen Begriff von Sozialpolitik entspricht: nach der Verbreitung individueller Rechtsansprüche auf Sozialleistungen - monetäre Transfers und soziale Dienstleistungen - und von Schutzrechten. Bob Deacon hat im ersten systematischen Lehrbuch des Forschungsgebietes Globale Sozialpolitik 2 die These einer socialisation of global politics formuliert, übersetzbar als "Sozialpolitisierung" der Weltpolitik. Damit ist eine zunehmende Prominenz sozialer und ökologischer Fragen gegenüber den älteren sicherheitspolitischen Fragen in der Weltpolitik gemeint. Wie real ist diese "Sozialpolitisierung"? Konkret: Inwieweit gibt es auch auf Weltebene "soziale" Ideen, Institutionen und sozialpolitische Instrumente? 3
Der Ursprung staatlicher Sozialpolitik in west- und nordeuropäischen Ländern zeigt die regionale und kulturelle Begrenzung der Idee des Wohlfahrtsstaats an. Zugleich verweist dieser Ursprung auf die enge Bindung von Sozialpolitik an die Form des Nationalstaats. Vieles deutet darauf hin, dass eine Verbreitung von Sozialpolitik über ihre westlichen Ursprungsländer hinaus nicht sehr wahrscheinlich ist.
Zum einen befindet sich ausgebaute Sozialpolitik in Form des Wohlfahrtsstaates selbst in westlichen Ländern in einer Krise. Insbesondere wird ein Bedeutungsverlust oder doch -wandel des Nationalstaats festgestellt, womit auch Sozialpolitik als an die Form des Nationalstaats gebundener Politiktypus gefährdet wäre. Zum anderen lassen Strukturmerkmale der Weltgesellschaft die Idee globaler Sozialpolitik oder gar eines globalen Wohlfahrtsstaats als unwahrscheinlich erscheinen. Auf Weltebene gibt es keinen Staat, so dass ein Wohlfahrtsstaat schon per definitionem nicht existieren kann. Globale Sozialpolitik im Sinne einzelner sozialpolitischer Maßnahmen könnte trotzdem existieren, jedoch wären diese Maßnahmen in Ermangelung einer zentralen Entscheidungsinstanz nicht mit gleicher Verbindlichkeit und Flächendeckung ausgestattet wie nationale soziale Politiken. Schließlich wird wirtschaftliche Globalisierung in sozialer Hinsicht oft als ein race to the bottom und Sozialdumping beschrieben. In Bezug auf die neuen Demokratien und emerging markets in Ostasien besagt dieses Argument, dass deren Erfolg gerade auf einem Verzicht auf Wohlfahrtsstaatlichkeit basiere.
Des Weiteren ist eine Globalisierung von Sozialpolitik kulturell nicht erwartbar. 4 Aufklärung und Rationalismus, Christentum und die Ideen der europäischen Arbeiterbewegungen gelten als ideelle Quellen des europäischen Wohlfahrtsstaats. Diese fehlen in anderen Kulturen, ebenso wie die "Staatstraditionen", die die europäischen Wohlfahrtsstaaten nachhaltig geprägt haben.
Es ist wenig bekannt, dass die Idee globaler Sozialpolitik bereits in den späten 1930er und 1940er Jahre im politischen Raum begründet wurde. Hauptprotagonisten waren Großbritannien und die USA. Kaufmann spricht von einem "Wohlfahrtinternationalismus": 5 Die von Roosevelt und Churchill 1941 vereinbarte Atlantik-Charta, die Erklärung von Philadelphia der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1944, die Charta der Vereinten Nationen von 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 formulierten erstmals - mit dem Anspruch universaler, weltweiter Geltung - die Idee sozialer Menschenrechte und einer auf soziale Ziele ausgerichteten internationalen Ordnung. Die Programmatik des Wohlfahrtinternationalismus wurde also bereits vor der Entwicklung nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit formuliert, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand. Was ist aus dem Wohlfahrtsinternationalismus der 1940er Jahre geworden?
Zunächst: Was ist mit "global" im Ausdruck "globale Sozialpolitik" genau gemeint? Die Entstehung der Weltgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit einer Erhöhung der Zahl der Nationalstaaten einhergegangen. In dieser Hinsicht ist "globale Sozialpolitik" nicht nur auf einer internationalen und transnationalen Ebene zu suchen, sondern auch in Nationalstaaten. Auch die Ausbreitung westlicher Formen staatlicher Sozialpolitik auf nicht-westliche, weniger modernisierte Nationalstaaten kann als Teil globaler Sozialpolitik` verstanden werden. Die Verbreitung westlicher Sozialpolitik in nicht-westlichen Ländern, sogar die Entstehung "neuer Wohlfahrtsstaaten", ist z.B. für Ostasien empirisch nachgewiesen worden. 6 Diese Länder sind nicht nur emerging markets, sondern auch entstehende oder bereits entstandene Wohlfahrtsstaaten. Nationale Wohlfahrtsstaatlichkeit scheint sich also weltweit auszudehnen. Wie aber steht es mit genuin globaler Sozialpolitik als Teil einer neuen internationalen Ordnung?
Deacons These soziologisch spezifizierend, scheint es mir sinnvoll, von globaler Sozialpolitik nur zu reden, wenn eine Ausdifferenzierung und Institutionalisierung von Sozialpolitik auf drei Ebenen beobachtbar ist: der Ebene von Ideen, Normen und Zielen; der Ebene von Akteuren und Institutionen sowie der Ebene politischer Maßnahmen und Instrumente. Erst eine substanzielle Präsenz "sozialer" Elemente auf allen drei Ebenen rechtfertigt die Rede von globaler Sozialpolitik. In vielen Ländern des Südens gibt es soziale Leistungssysteme; diese beschränken sich aber oft auf privilegierte, regierungsnahe Gruppen. Zudem fehlt eine ausgeprägte, politisch-rechtlich verankerte normative Verpflichtung auf Wohlfahrtsziele.
Es gibt ausgeprägte globale soziale Ideen und Normen, die dem normativen Gefüge der Weltgesellschaft einen sozialen` Stempel aufdrücken. Erstens sind internationale soziale Standards und Rechte zu nennen, insbesondere soziale Menschenrechte. Grundlegend ist der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen von 1966 ("Sozialpakt"). Auf der Ebene von Weltregionen sticht die Europäische Sozialcharta des Europarats von 1961 (revidiert 1996) hervor. Schließlich sind die zahlreichen arbeitsbezogenen Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) zu nennen, zuletzt kodifiziert als "Kernarbeitsnormen" (1998). Auch entwicklungspolitische Ziele werden zunehmend in Kategorien von Rechten der Menschen in den Zielländern formuliert. Menschenrechtsschutz ist zu einer eigenen Politik geworden, die sich mehr und mehr auch auf soziale Menschenrechte erstreckt und in die Aktivitäten internationaler Organisationen einfließt. 7Auch Armut wird zunehmend als Menschenrechtsfrage definiert.
Zweitens sind globale normative und kognitive Leitvorstellungen wesentliche Elemente globaler Sozialpolitik und der Weltgesellschaft generell. Leitvorstellungen haben einen weicheren' Charakter als Recht und sind teilweise nur Semantiken, die von der Wirklichkeit vieler Länder entkoppelt sein können. 8 Leitvorstellungen werden jedoch weltweit von Nationalstaaten und subnationalen Akteuren geltend gemacht und können auf diese Weise unter Umständen sogar stärker wirken als Rechtsnormen. Abu Sharkh 9 wies nach, dass die ILO-Konventionen zum Verbot von Kinderarbeit wirksam waren, aber weniger durch unmittelbare Befolgung der Konventionen, sondern durch öffentliche Thematisierung des Problems und Mobilisierung durch Nichtregierungsorganisationen (NROs). Sozialpolitisch einschlägig sind insbesondere die globale Idee kollektiver, nationaler "Entwicklung" und die Idee individueller Bildbarkeit. Zu den globalen Leitvorstellungen zählen auch spezielle institutionelle Modelle wie das Mehr-Säulen-Modell in der Alterssicherung, das vor allem durch die Weltbank weltweit verbreitet wurde.
Drittens ist eine globale soziale Öffentlichkeit entstanden, die ein Medium für die Entstehung, Entwicklung und Verbreitung sozialer Ideen bildet. De Swaan 10 hat die Entstehung eines "sozialen Gewissens" als ein Merkmal nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit identifiziert. Auf Weltebene ist ein solches soziales Gewissen bereits in Umrissen erkennbar. Sozial` relevante Weltereignisse werden zunehmend wahrgenommen, etwa durch soziale Bewegungen. Dies gilt besonders für einzelne Ereignisse wie globale Gesundheitsprobleme und Epidemien (zuletzt AIDS, SARS, Vogelgrippe) und humanitäre Katastrophen wie der Tsunami. Es bilden sich aber auch auf Dauer gestellte globale soziale Diskurse heraus, so in Bezug auf Kinderarbeit, Zwangsarbeit und Gefangenenarbeit, manifest in Zertifikaten für ohne Kinderarbeit hergestellte Teppiche oder Proteste gegen Sportschuhe, die in chinesischen Gefängnissen hergestellt wurden.
Es gibt keinen Weltstaat, aber dezentrale, zerklüftete Arrangements von Akteuren und Steuerungsformen in der Weltpolitik. In der Literatur wird von global governance - Regieren ohne Regierung` - gesprochen, in Bezug auf Sozialpolitik von global social governance. 11 Es ist eine bunte Vielfalt von Akteuren identifizierbar, die sich mit sozialpolitischen Fragen beschäftigen: Sie können gouvernemental (an Nationalstaaten gebunden) oder nicht-gouvernemental (transnational) sein; organisiert oder nicht-organisiert (mit fließenden Grenzen); können unterschiedlichen funktionalen Sphären der Weltgesellschaft angehören und können schließlich auf unterschiedlichen sozialräumlichen Ebenen der Weltgesellschaft angesiedelt sein. Ordnungspolitisch lassen sich vereinfachend gouvernementale, zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure unterscheiden.
Akteure und Institutionen können in unterschiedlicher Weise einen "sozialen" Charakter haben: Sie können funktional auf soziale Fragen wie Arbeit und Gesundheit spezialisiert sein - so mehrere Teil- und Sonderorganisationen des UN-Systems, vor allem die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit Schwerpunkt auf Arbeit, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und die im Bildungsbereich engagierte UNESCO. In anderen Organisationen ist die soziale Orientierung Teil einer breiteren Funktionsausrichtung, so in der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Sozialpolitisierung` kann auf unterschiedliche Weise stattfinden: Akteure können sozialpolitische Fragen als neues Betätigungsfeld entdecken, so die globale soziale Bewegung Attac. Akteure können auch die sozialpolitischen Aspekte ihres Handelns verstärken, so im Laufe der letzten Jahrzehnte die Weltbank. 12
Unter den gouvernementalen Akteuren sind an erster Stelle die internationalen Regierungsorganisationen zu nennen. Dies sind vor allem die zahlreichen Organisationen im System der Vereinten Nationen. Auf der Ebene von Weltregionen sind supranationale Einheiten zu nennen, im engeren Sinne nur die Europäische Union (EU). Der soziale Charakter der EU - ob die EU ein "soziales Europa" sein soll - ist umstritten. Schließlich ist der ältere und größere Europarat durch seine Menschenrechtsaktivitäten ebenfalls ein wesentlicher weltregionaler sozialpolitischer Akteur. Zu den gouvernementalen globalen Akteuren mit sozialpolitischer Relevanz sind auch internationale Gerichtshöfe zu zählen, vor allem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der dem Europarat zugeordnet ist, und der Europäische Gerichtshof der EU in Luxemburg.
Eine besondere Form von Globalität wird durch nationale Entwicklungsorganisationen verkörpert, 13 so in Deutschland die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Sozialräumlich zwischen nationalen Entwicklungsorganisationen und internationalen Organisationen wie Weltbank und ILO stehen regionale Entwicklungsbanken, besonders die Afrikanische und die Asiatische Entwicklungsbank. Ein Tätigkeitsschwerpunkt der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) ist beispielsweise der Bereich Sozialhilfe.
Unter den nicht-gouvernementalen Akteuren gibt es ein breites Spektrum (zivil-)gesellschaftlicher Akteure. Einige dieser Organisationen - wie auch nationale Entwicklungsorganisationen - scheinen sich breiter und spezifischer sozialen Themen zuzuwenden, also über das Ziel der Armutsbekämpfung hinaus spezifische sozialpolitische Programme voranzutreiben und sich auch in die Beratung zur Sozialgesetzgebung einzuschalten. Dabei findet seit längerem ein Umschwung von klassischer, asymmetrischer "Hilfe" und Armutsbekämpfung zu einer auf Rechte, Inklusion und Partizipation zielenden Entwicklungsstrategie statt. Individuelle Anrechte sind aber ein wesentliches Element moderner westlicher Wohlfahrtsstaatlichkeit.
Weitere zivilgesellschaftliche Akteure sind diverse transnationale Akteure, Akteursverbünde und Netzwerke, etwa Ärztevereinigungen wie Médecins Sans Frontière, Vereinigungen von Sozialadministratoren wie die International Social Security Association (ISSA) und internationale Wissenschaftsvereinigungen, etwa die International Sociological Association (ISA) mit sozialpolitisch einschlägigen Untergliederungen, und globale Think Tanks.
Schon in nationalen Wohlfahrtsstaaten spielen privatwirtschaftliche Akteure eine wichtige Rolle, mehr noch in der Weltgesellschaft. Das Pendant zu betrieblicher Sozialpolitik ist auf globaler Ebene die "corporate social responsibility" oder "corporate social governance", also die freiwillige Selbstverpflichtung auf Sozialstandards in internationalen Unternehmen. Des Weiteren haben sich auch auf internationaler Ebene private Anbieterfirmen formiert, haben sich globale "Wohlfahrtsmärkte" gebildet. Dies gilt insbesondere für den Bereich Gesundheit und Pflege in Form internationaler Krankenhausgesellschaften und Pharmakonzerne. Im Bereich der Alterssicherung globalisieren sich die Anbieter von Finanzdienstleistungen und Vorsorgeprodukten. Ein großes und zunehmendes Gewicht haben globale Unternehmensberatungen, die auch in sozialen Sektoren tätig sind. 14
Zur Vielfalt der Akteursarten kommt die Vielfalt der sozialräumlichen Ebenen von Weltgesellschaft, auf denen sie zu verorten sind, hinzu: Weltebene, weltregionale Ebene, nationalstaatliche Ebene und subnationale Ebene. Entsprechend ist mit komplexen Beziehungsstrukturen zwischen den Akteuren zu rechnen. Deacon sieht "soziale Weltregionen", vor allem die EU, aber auch andere Weltregionen, als wichtige Formen globaler Sozialpolitik. 15 Alles in allem gibt es in der Akteursdimension deutliche Elemente globaler Sozialpolitik, deren Ausprägung zuzunehmen scheint.
In westlichen Wohlfahrtsstaaten und in der EU können vier Instrumente oder Maßnahmetypen staatlicher Sozialpolitik unterschieden werden: Versorgung (z.B. Schulessen), Umverteilung (z.B. Sozialhilfe und Sozialversicherung), Regulierung (rechtlichen Rahmung etwa des Arzneimittelmarktes) und weiche Steuerung`. Versorgung und Umverteilung sind die klassischen Instrumente des Wohlfahrtsstaats. Weiche Koordinierung findet sich ausgeprägt in der EU, vor allem in Form der so genannten offenen Methode der Koordinierung (OMK). Sind diese vier Formen sozialpolitischer Maßnahmen auch auf globaler Ebene identifizierbar?
Ähnlich wie bei der EU gibt es auf globaler Ebene keine versorgenden und auch keine umverteilenden Instrumente und Maßnahmen. Versorgende Maßnahmen treten nur in einer Form auf, die der Merkmale institutionalisierter Wohlfahrtsstaatlichkeit entbehrt, nämlich als vorübergehende Hilfe im Fall von Naturkatastrophen, humanitären Katastrophen und, getragen vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), für Flüchtlinge. Umverteilung findet in großem Umfang statt im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, die früher "Entwicklungshilfe" genannt wurde. Auch Spendenaufrufe und -aktionen internationaler Organisationen im Fall von Katastrophen bewirken eine globale Umverteilung. Dies sind jedoch kollektive Umverteilungen zwischen Regionen und Kollektivitäten, nicht zwischen individuellen Bürgern, wie es im Begriff der Umverteilung in westlichen Wohlfahrtsstaaten impliziert ist. Auch fehlt ein individueller Rechtsanspruch, der konstitutives Element westlicher Sozialpolitik ist.
Der Schwerpunkt globaler sozialpolitischer Maßnahmen scheint in den Bereichen Regulierung und weiche Koordinierung zu liegen, ähnlich wie in der EU. Wesentliche Formen der Regulierung sind die Verfahren vor internationalen Gerichtshöfen. Regulierend wirken auch die Prozeduren und Streitschlichtungsverfahren der WTO. Menschenrechte liegen im Überlappungsbereich von Regulierung und weicher Koordination. Weiche Koordinierung findet statt in den Menschenrechtsverfahren der Vereinten Nationen und des Europarats, die Berichte, Ortsbegehungen und Stellungnahmen von NROs beinhalten. Auch die ILO kennt derartige Verfahren zur Kontrolle und Durchsetzung ihrer Konventionen. Sehr weiche' Koordination findet schließlich statt in Form internationaler Gipfeltreffen und internationaler Zieldeklarationen, zuletzt die Millenium Development Goals (2000). In dem Maße, wie derartige Verfahren und Erklärungen geeignet sind, eine Öffentlichkeit zu erzeugen und Verpflichtungen zu definieren, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren eingefordert werden können, kann weiche Steuerung durchaus wirksam sein. Die erwähnte Verminderung von Kinderarbeit ist hierfür ein Beispiel. Insgesamt ist festzuhalten, dass der Kernbereich westlicher sozialpolitischer Maßnahmen (Versorgung, Umverteilung) auf globaler Ebene fehlt, dass aber regulierende und weich koordinierende Maßnahmen recht breit entwickelt sind.
Wiederholt sich also die westeuropäische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts - Aufbau von Sozialpolitik zwecks Abarbeitung der Folgeprobleme kapitalistischer Entwicklung - im 21. Jahrhundert auf globaler Ebene? Tatsächlich konnten wir auf allen drei Ebenen, die wir untersucht haben - Ideen, Akteure, Instrumente - Elemente globaler Sozialpolitik identifizieren: substanzielle, aber in ihrer Umsetzung begrenzte sozialpolitische Ideen; ausgeprägte und vielfältige sozialpolitische oder sozialpolitisch relevante Akteure; aber im Vergleich zu nationaler Sozialpolitik wenige sozialpolitische Instrumente. Auf allen drei Ebenen scheinen die sozialpolitischen Elemente eher zuzunehmen. Beobachtbar ist auch eine Verbreiterung globaler Sozialpolitik - von Armutsbekämpfung zu Alterssicherung und Gesundheit, neuerdings auch zu sozialer Grundsicherung 16sowie zu Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsmarktpolitik.
Genuin globale Sozialpolitik ist operativ jedoch begrenzt - der Schwerpunkt des weltweiten Ausbaus von Sozialpolitik liegt derzeit weiter auf nationalstaatlicher Ebene. Dass Sozialpolitik in Übergangs- und Entwicklungsländern seit den 1980er Jahren enorm ausgebaut wird, ist wenig bekannt. Dies ist auch eine Form globaler Sozialpolitik, zumal sie wesentlich von globalen Akteure wie ILO und Weltbank angestoßen ist.
Diese eher optimistische Sicht relativiert verbreitete Auffassungen wachsender globaler Verelendung und Ökonomisierung im Zuge "neoliberaler" wirtschaftlicher Globalisierung. Tatsächlich ist Armut in den 1990er Jahren in allen Großregionen des Südens zurückgegangen außer im Afrika südlich der Sahara. Der Fokus auf Elend in Afrika ist selektiv. Die pessimistische Sicht auf den Prozess der Globalisierung unterschätzt, in welchem Umfang sozialpolitische Institutionen weltweit bereits aufgebaut worden sind. Die Welt wird ökonomisiert und gleichzeitig sozialpolitisiert`. Auch in der Geschichte westlicher Nationalstaaten ist die Entstehung von Sozialpolitik häufig nicht wahrgenommen worden, da sie von der auffälligeren Entwicklung von Märkten überlagert wurde. Tatsächlich ist globale Sozialpolitik breit gesellschaftlich verankert - ihre Ideen und Akteure kommen, wie gezeigt, aus vielen Bereichen: aus Politik, Recht, Medizin, Wissenschaft, Religion und auch aus der Wirtschaft. Auch zukünftig kann mit weiterem Ausbau globaler Sozialpolitik gerechnet werden: Entwicklungspolitik wird zunehmend sozial- (statt nur struktur-) politisch ausgerichtet, 17 und mit der neueren Menschenrechtspolitik ist weltpolitisch ein Instrument erwachsen, das auch soziale Belange der Menschen nachhaltig stützt.
Zugleich sind wesentliche Gegenkräfte und Grenzen globaler Sozialpolitik nicht zu verkennen. Umfangreiche sozialpolitische Maßnahmen haben erhebliche Legitimationsbedarfe, aber es gibt keinen demokratischen Weltstaat, der Legitimität erzeugen könnte. Der auch in internationalen Organisationen einflussreichste Staat, die USA, hat den Sozialpakt von 1966, der soziale Menschenrechte verbindlich macht, nicht unterschrieben. Auffällig ist auch, dass die globale Sozialpolitik einen Überschuss an Rhetorik aufweist. Insoweit werden im sozialdemokratischen Ruf, die neoliberale wirtschaftliche Globalisierung durch eine soziale Globalisierung zu zähmen`, die Möglichkeiten globaler Sozialpolitik teilweise auch überschätzt. Die entstehende globale Sozialpolitik ist anders als die aus europäischen Sozialstaaten vertraut: Sie ist eher projektförmig als bürokratisch, eher marktregulierend als versorgend`, eher sozialtechnologisch als sozialdemokratisch, eher individualisierend als korporatistisch, eher zivilgesellschaftlich und privatwirtschaftlich als etatistisch und eher rechtlich als politisch verfasst. Die Idee, die traute deutsche Sozialstaatlichkeit auf den Globus zu verbreiten, könnte sich - ähnlich und mehr noch als die Idee eines "sozialen Europa" - als "bismarckdeutsche Illusion" erweisen, wie Ralf Dahrendorf in einem Interview im Jahre 2005 in Hinblick auf die Zukunft Europas gesagt hat.
1 Vgl. World
Commission on the Social Dimension of Globalization, A Fair
Globalization. Creating Opportunities for All, Genf 2004.
2 Vgl. Bob Deacon mit Michelle Hulse und
Paul Stubbs, Global Social Policy, London u.a. 1997. Die wichtigste
Zeitschrift ist Global Social Policy (seit 2001).
3 Zu einer ausführlicheren Analyse
vgl. Lutz Leisering, Gibt es einen Weltwohlfahrtsstaat?, in:
Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und
Weltstaatlichkeit, Wiesbaden 2007, S. 185 - 205.
4 Vgl. Elmar Rieger/Stephan Leibfried,
Kultur versus Globalisierung, Frankfurt/M. 2004.
5 Franz-Xaver Kaufmann, Die Entstehung
sozialer Grundrechte und die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung,
Paderborn u.a. 2003.
6 Sven E. O. Hort/Stein Kuhnle, The
Coming of East and South-East Asian Welfare States, in: Journal of
European Social Policy, 10 (2000), S. 162 - 184.
7 Vgl. etwa Joel E. Oestreich, The Human
Rights Responsibilities of the World Bank: A Business Paradigm, in:
Global Social Policy, 4 (2004), S. 55 - 76. Allgemein Angelika
Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht,
Habilitationsschrift, Berlin 2005; Ulrich Becker /Bernd von
Maydell/Angelika Nußberger (Hrsg.), Die Implementierung
internationaler Sozialstandards, Baden-Baden 2006.
8 Vgl. John W. Meyer/John Boli/George M.
Thomas/Francisco O. Ramirez, Die Weltgesellschaft und der
Nationalstaat, in: John W. Meyer, Weltkultur: Wie die westlichen
Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von Georg Krücken,
Frankfurt/M. 2005.
9 Vgl. Miriam Abu Sharkh, History and
Results of Labor Standard Initiatives, Ph.D. thesis,
Stanford-Berlin 2002.
10 Vgl. Abram de Swaan, In Care of the
State. Health Care, Education and Welfare in Europe and the USA in
the Modern Era, Oxford-New York 1988.
11 Bob Deacon, Global Social Policy
& Governance, Los Angeles u.a. 2007
12 Vgl. Antony Hall, Social Policies in
the World Bank: Paradigms and Challenges, in: Global Social Policy,
7 (2007) 2, S. 151 - 175.
13 Vgl. generell Colette Chabbott,
Development INGOs, in: John Boli/George M. Thomas (Eds.),
Constructing World Culture. International Nongovernmental
Organizations since 1875, Stanford 1999, S. 222 - 248.
14 Vgl. Paul Stubbs, International
Non-State Actors and Social Development Policy, in: Global Social
Policy, 3 (2003) 3, S. 319 - 348.
15 B. Deacon (Anm. 11).
16 Vgl. Lutz Leisering/PetraBuhr/Ute
Traiser-Diop, Grundsicherung als globale Herausforderung. Soziale
Grundsicherungssysteme in Entwicklungs- und
Übergangsgesellschaften, Bielefeld 2006; Michael
Cichon/Krzysztof Hagemejer, Changing the development policy
paradigm: Investing in a social security floor for all, in:
International Social Security Review, 60 (2007) 2 - 3, S. 169 -
196.
17 So das Konzept der ILO eines
globalen sozialen Minimums. Vgl. dazu M. Cichon/K. Hagemejer,
ebd.