Indien befindet sich seit fast drei Jahrzehnten in einer Phase tiefgreifender wirtschaftlicher, sozialer und insbesondere politischer Veränderungen. Die Entwicklung des indischen Parteiensystems von einer Einparteiendominanz zu einem Quasi-Zweiparteiensystem, der damit verbundenen Politik der Koalitionen 1 und das Erstarken regionaler und kastenbezogener Parteien sind die herausragenden Merkmale dieses Transformationsprozesses.
Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen ist jedoch das Auftreten eines Phänomens, welches mit Hilfe unterschiedlichster Begrifflichkeiten wie Hindu-Nationalismus, Hindu-Fundamentalismus, Hindu-Chauvinismus oder Hindu-Kommunalismus zu erfassen versucht wird. Die damit assoziierten negativen Konnotationen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wurden dabei stets zu den bedrohlichsten Herausforderungen für die indische Demokratie gezählt. Die sich vermeintlich abzeichnende Veränderung der politischen Kultur, geprägt durch gewalttätige Ausschreitungen gegenüber religiösen Minderheiten, zunehmende Versuche der Aushöhlung grundlegender Verfassungsprinzipien wie den Säkularismus sowie das immer stärkere Formulieren radikaler politisch-gesellschaftlicher Forderungen, schien das indische Modell der Konsensdemokratie grundlegend in Frage zu stellen und düstere Prognosen zu bestätigen.
Dabei wurde der wesentlichen Frage nur bedingt nachgegangen: Inwieweit kann sich ein solches Phänomen dauerhaft zu einer geschlossenen politischen Kraft formieren, mit Aussicht nicht nur auf eine kurzfristige Machtübernahme, sondern auch auf längerfristigen Machterhalt? Zwar erlebten die Hindu-Nationalisten bei den Bundeswahlen 2004 und weiterer Landeswahlen einen gewissen Niedergang. Doch kann daraus nicht geschlossen werden, dass sich dies in Zukunft wiederholen wird. Vielmehr gilt es daher, die organisatorischen Strukturen, die bis dato als Motor und Erfolgsgarant galten, perspektivisch auszuleuchten und deren Zusammenspiel sowie etwaige Probleme zu bewerten, um diese aus dem Bereich der Bedrohungswahrnehmungen ausschließen zu können.
Hindu-Nationalismus soll hier als ein gesellschaftliches Phänomen aufgefasst werden, welches seinen sichtbaren Ausdruck in der Genese einer sozialen Bewegung findet, deren Trägergruppe ein Verbund von Organisationen darstellt, der unter dem Namen Sangh Parivar bekannt ist. 2 Es handelt sich dabei nicht um eine moderne Schöpfung, sondern es verfügt über Wurzeln, die weit ins koloniale Indien hineinreichen und in den hinduistischen Erneuerungsbewegungen zu finden sind. Den "Hindu-Nationalismus" auf einen rein religiösen Fundamentalismus hinduistischer Spielart zu reduzieren und ihn mit radikalen Bewegungen islamischer oder christlicher Richtung gleichzusetzen, verkennt sein Wesen und seine Breitenwirkung. Die Bewegung verfügt über ein umfangreiches Netzwerk, ihre identitätsstiftende Basis Hindutva beruht auf der Vorstellung, die indische Gesellschaft sowie die politisch-institutionellen Strukturen zu transformieren.
Vorweg kann festgestellt werden, dass der Hindu-Nationalismus keine in sich homogene Größe ist, sondern von seiner personellen wie organisatorischen Trägerschaft her in seiner themenspezifischen Zielsetzung durchaus vielgestaltig und variabel ist. Dennoch kann dieses Phänomen, trotz zum Teil erheblich divergierender programmatischer und institutioneller Formen, als eine nach außen klar definierte soziale wie politische Bewegung gesehen werden. Es steht dabei außer Frage, dass es sich um eine außerordentlich untypische soziale Bewegung handelt, entsprechend den Worten von Amrita Basu, "more orchestrated than spontaneous, more elitist than subaltern, and more hateful than compassionate". 3
Die Entwicklung eines ideologischen Konzeptes zur Schaffung einer kulturellen Identität als Rüstzeug für den angestrebten sozialen Wandel entwickelte sich u.a. aus der Reaktion auf die Konfrontation mit dem Islam, insbesondere aber mit dem Christentum. Kennzeichen sind dabei unterschiedliche regionale Strömungen, vielfältige personelle wie ideologische Überschneidungen sowie westliche Einflussgrößen. Das umfassendste und einflussreichste Konzept stellt das Hindutva-Manifest von Vinayak Damodar Savarkar dar. 4 Es ist als eine Art Leitlinie zu interpretieren, die Hindus zu organisieren, um durch den Aufbau einer homogenen Gemeinschaft (Hindu Sanghatan) die Etablierung eines mächtigen, hinduistischen Staates (Hindu Rashtra) zu ermöglichen, welcher im internationalen Wettbewerb der Nationen dauerhaft seine Unabhängigkeit (Swaraj) bewahren kann. Im Mittelpunkt von Hindutva steht die Formulierung der Bedingungen, die erfüllt werden müssen, um als Mitglied der Gemeinschaft, als Staatsbürger (Hindu), 5 zu gelten. Durch den Nachweis, dass er Indien (Hindusthan) nicht nur als sein Vaterland (Pitribhu), sondern auch als heiliges Land (Punyabhu) verehrt, ist der Einzelne in der Lage, seine Loyalität gegenüber der Gemeinschaft zu belegen, die alle als heterogen verstandenen Elemente zu exkludieren hat.
Neben dieser essentiellen Loyalitätspflicht des Individuums ist die Gemeinschaft als Ganzes dazu angehalten, die Basis nach dem "Gesetz der Zahl" nachhaltig zu schützen und zu erweitern. Dieser Prozess der Nationenbildung (Hindu Rashtravad) wird bestimmt durch politische Determinanten, die auch den nicht-hinduistischen Minderheiten ihre Position zuweisen und rudimentäre makroökonomische Zielvorstellungen und soziale Reformen vorgeben. Hierunter sind in erster Linie Maßnahmen gegen Phänomene zu verstehen, die in der hinduistischen Gesellschaftordnung als Fehlentwicklung interpretiert werden. Im Zentrum der von Savarkar angestrebten Reformansätze stehen dabei die Aufhebung der Unberührbarkeit sowie das auf Geburt basierende Kastensystem mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Restriktionen.
Damit das Hindutva-Konzept identitätsstiftende Wirkung entfalten kann, erfolgt dessen Ausgestaltung auf der Basis dreier kognitiver Codes: 6 eine gemeinsame Nation (Rashtra), eine gemeinsame Rasse (Jati) und eine gemeinsame Zivilisation (Sanskriti). 7 Die Kodifizierung erfolgt durch konstitutive Elemente wie die Entwicklung eines Bewusstseins einer gemeinsamen Geschichte, die Durchsetzung einer einheitlichen Sprache (Hindi in Devnagari-Schrift), die Festlegung gemeinsamer Gesetze und Rituale, die Erhaltung der Einheit und Integrität der Hindus als Staat und Nation, die Verteidigung des hinduistischen Glaubens sowie des Territoriums. Savarkar hat damit ein Portfolio unterschiedlichster Instrumente zur Identitätsarbeit zur Verfügung gestellt, welches spätere hindu-nationalistische Ideologen in eine Strategie transformiert haben, Nicht-Hindus als ein Mittel politischer Mobilisation ein- oder auszuschließen, um so ihre soziale Basis zu erweitern. Heute fördert Hindutva als eine von Sangh Parivar angenommene Ideologie insbesondere die Form eines exklusiven kulturellen Nationalismus. 8
Unter dem Begriff Sangh Parivar (Familie) wird ein Verband von parlamentarischen und außerparlamentarischen Organisationen verstanden, der sich weitestgehend der Hindutva-Ideologie verpflichtet hat und als Trägergruppe der hindu-nationalistischen Bewegung zu betrachten ist. Im Zentrum dieser Familie steht ein arbeitsteiliges Triumvirat der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) als organisatorisches und ideologisches Rückgrat, der Vishwa Hindu Parishad (VHP) zur Abdeckung religiöser Fragen sowie die Bharatiya Janata Party (BJP), welche die parlamentarische Vertretung übernimmt. In ihrer "Kulturarbeit" werden sie von einem weitgespannten Netz unterschiedlichster Einrichtungen wie Missionsorganisationen, Schulen, Krankenhäuser und Verlagen unterstützt. 9
Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligen-Vereinigung) wurde 1925 als eine "kulturelle" Organisation mit einer klaren politischen Agenda gegründet, um der Zersplitterung der Hindu-Gesellschaft Einhalt zu gebieten und einen starken hinduistischen Staat zu etablieren. Ein Mangel an Moral, Disziplin und Charakter hat dieses bisher verhindert. Gelänge es dem RSS einen bestimmten Anteil der Hindus im Sinne von Hindutva zu schulen, würde eine physisch und moralisch neue hinduistische Elite erschaffen werden. 10 Mit ihr in den entsprechenden Schlüsselpositionen ließe sich die Nation revolutionieren, ohne erst die Schaffung institutioneller Voraussetzungen abwarten zu müssen. 11 In diesem Sinne betrachtet sich der RSS als Staat im Staate, der auf dem Weg ist, selbst der Staat zu werden. 12 Die ursprüngliche Überzeugung, dass dieses Ziel nicht durch ein direktes, parteipolitisches Engagement zu erreichen ist, 13 wurde im Laufe der Jahre verworfen. Galt anfangs der RSS-Führung Demokratie als "wesensfremd" für das indische Volk, 14 so scheint sich mit dem Aufstieg der BJP der Blick des RSS auf die zu instrumentalisierenden Aspekte des politischen Prozesses gerichtet zu haben. Auch die zuvor gehegten Zweifel an der Legitimität des nach der Unabhängigkeit etablierten politischen Systems sind offenbar aufgegeben worden. Demnach entspringt sein Arrangement mit der Demokratie nicht dem Einverständnis mit ihr, sondern wohl eher der Einsicht, dass die eigene Programmatik besser unter einem demokratischen System als unter einem autoritären umzusetzen ist. 15
Auf Bestreben des RSS wurde der Vishwa Hindu Parishad (VHP, Weltrat der Hindus) 1964 ins Leben gerufen und gilt als dessen wichtigste kultur- und religionspolitische Nebenorganisation. Für die Gründung lassen sich zwei wichtige Motive nennen: Erstens sollte den institutionalisierten monotheistischen Religionen des Westens eine Organisation gegenüber gestellt werden, die den "desorganisierten und selbstvergessenen Zustand" der Hindus aufhebt und diese darüber hinaus formiert. 16 Zweitens erhoffte man sich, Einfluss auf breitere Bevölkerungsschichten zu erlangen, insbesondere auf die Unberührbaren und die Stammes-Gesellschaften. 17 Dies war dem RSS aufgrund seines elitären Habitus bislang nicht gelungen, wobei insbesondere der "hinduistische Klerus" außen vor geblieben war. 18
Der VHP wurde daher als eine Plattform für die verschiedenen hinduistischen Bewegungen, Schulen und Sekten geschaffen, nicht nur um die Einheit der Hindu-Gemeinschaft, die Ekatmata, zu propagieren, sondern auch, um die Möglichkeit zu haben, direkten Einfluss auf diese Gruppen auszuüben. Darüber hinaus bietet der VHP wichtige Dienstleistungen für entsprechende Parteien und andere Organisationen an, sofern diese mit seinen Zielen übereinstimmen. Trotz der personellen Kontrolle durch RSS-Kader in der Führungsspitze hat sich der VHP im Laufe der Jahre als eine politisch einflussreiche sowie zunehmend eigenständige hindu-nationalistische Organisation etabliert.
Der Aufstieg der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei), die 1980 aus dem bereits 1951 gegründeten Bharatiya Jan Sangh (BJS) hervorgegangen ist, gilt als eines der signifikantesten politischen Ereignisse des modernen Indiens. Mit ihren radikalen Positionen fristete die Partei lange Zeit ein politisches Schattendasein. So propagierte sie beispielweise den Bau eines Ram-Tempels in Ayodhya und die Außerkraftsetzung des Artikels 370, der die Sonderstellung Kaschmirs und die Vereinheitlichung des Zivilrechts regelt. 19
Erst mit dem Bruch der Dominanz des bislang herrschenden INC 20und der damit verbundenen Nebenwirkungen 21 wurde ein politisches Vakuum geschaffen, welches die BJP mit umfangreicher Wahlkampfhilfe der außerparlamentarischen Gruppierungen der Sangh-Familie, insbesondere dem RSS, auszufüllen vermochte. Ihren außergewöhnlichen Aufstieg, der bis zur Regierungsbildung führte, belegen auch die Wahlergebnisse: Zwischen 1951/52 und 1999 steigerte die Partei die Zahl ihrer Parlamentssitze von 3 auf 182, ihr Stimmenanteil wuchs im selben Zeitraum von 3,1 auf 23,8 Prozent.
Im Verbund des Sangh Parivar fungiert der RSS als eine Art Mutterorganisation und Kaderschmiede. Unter anderem durch Doppelmitgliedschaften und die Bereitstellung personeller und infrastruktureller Unterstützung 22 verfolgt er eine Art Aneignungsstrategie, um seinen gesellschaftlichen Einfluss zu vergrößern und die "Hinduisierung" der Gesellschaft voranzutreiben. Dabei nutzt er einerseits bestehende Institutionen des Staates und der Gesellschaft, hat andererseits aber auch eigene Organisationen geschaffen, 23 die zwar formal von ihm geschieden, tatsächlich aber von ihm geleitet werden. Die Bestrebungen der hindu-nationalistischen Bewegung, das Hindutva-Konzept politisch zu implementieren, werden also nicht nur auf politischer oder parlamentarischer Ebene vorangetrieben, sondern stets durch Aktivitäten des außerparlamentarischen Netzwerkes flankiert.
Ayodhya ist der Mittel- und Brennpunkt auf der politischen Landkarte des unabhängigen Indiens. Die dortige Babri-Moschee wurde von der hindu-nationalistischen Bewegung auserwählt, einen Wandel in Indiens Selbstverständnis herbeizuführen. Diese heilige Stätte bietet stets Anlass zu Gewaltausbrüchen zwischen Hindus und Muslimen. Ihre Bedeutung ist eher mythischer als historisch belegbarer Natur und kann als Synthese von Religion, Geschichte und Politik aufgefasst werden. 24
Der Legende nach ist Ayodhya nicht nur die Geburtsstätte des hinduistischen Gottes Ram, 25 sondern war auch dessen Herrschersitz. Es verkörpert damit das Zentrum des vielbeschworenen "Goldenen Zeitalters", eine Ära, an die durch die Verwirklichung von Hindutva wieder angeknüpft werden soll. Die besondere Brisanz beruht in der Geschichte nach dem Untergang des Reiches von Ayodhya und dem Bau der Babri-Moschee am angeblichen Platz des einstigen Hindutempels. Bereits im Jahre 1984 begann der VHP eine Kampagne zur "Befreiung von Rams Geburtsort". Ziel war der Abriss der Babri-Moschee und die Errichtung eines hinduistischen Tempels. Am 6. Dezember 1992 eskalierte der Konflikt, und die Moschee wurde zerstört - eines der dramatischsten Ereignisse des heutigen Indiens. 26
Die Ayodhya-Agitation symbolisiert für den RSS einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Sie stand für die Wiederherstellung des nationalen Stolzes und als signifikante Wegmarke in Richtung eines hinduistischen Staates. Folglich unterstützte der RSS den VHP leidenschaftlich. Das Zusammenspiel der einzelnen Organisationen der Sangh-Familie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der VHP organisierte die Massenunterstützung, und als deutlich wurde, dass diese groß genug war, engagierte sich die BJP. Zu entscheidenden Zeitpunkten beteiligte sich der RSS direkt. Während RSS und VHP für den ideologischen und auch organisatorischen Rückhalt der Mobilisierung sorgten, gewährleistete die BJP die parlamentarische Rückendeckung und politische Transformation der radikalen Inhalte. 27 Ayodhya erlaubte somit dem RSS, sich erstmalig durch VHP und BJP aktiv politisch zu engagieren, ohne seine eigene Identität als Organisation aufgeben zu müssen. 28
Seit die BJP aber mit der Regierungsverantwortung betraut war, versuchte sie, sich von dem Konflikt und von ihren einstigen Bewegungspartnern zu distanzieren. Die radikale VHP dagegen treibt das Projekt mit unverminderter Vehemenz voran und zeigt, dass der außerparlamentarische Hindu-Nationalismus gerade im spezifisch religiösen Kontext besondere Radikalität an den Tag legt. Für die BJP war die Zerstörung der Moschee ein Pyrrhus-Sieg. Ein großer Teil der Mittelklasse, Stammwähler der BJP, empfand die Zerstörung der Moschee als ungerechtfertigt und entzog der Partei ihr Vertrauen. 29 Parteiinterne Differenzen, Entlassungen mehrerer BJP-Landesregierungen sowie hohe Verluste in den folgenden Landtagswahlen waren die Folge.
Die zu beobachtenden Vorgänge innerhalb der Sangh Parivar weisen typische Merkmale eines Bewegungsdilemmas auf. Neben Spannungen zwischen den moderaten und radikalen Strömungen innerhalb der BJP traten zunehmend Dissonanzen im Außenverhältnis zu RSS und VHP auf. Bis zur Übernahme der Regierungsverantwortung durch die BJP waren offen ausgetragene Konflikte zwischen den einzelnen Gruppierungen selten - zu bedeutend war der Stellenwert des RSS und des VHP, als dass die BJP unverhüllt Kritik an diesen geübt hätte. Neben der starken emotionalen Bindung sind sich die Parteikader durchaus bewusst, dass der politische Aufstieg ohne den Rückhalt der Bewegung nicht möglich gewesen wäre. Zudem hat die BJP die politische Vertretung des organisierten Hindu-Nationalismus nicht monopolisiert, eine Tatsache, die dieser bereits in der Vergangenheit durch die Wahl einer anderen parteipolitischen Option unterstrichen hat.
Dennoch sind die Risse in der Architektur der Sangh-Familie, welche im Zuge der "Ayodhya-Erschütterung" aufgetreten sind, während der BJP-Regierungszeit deutlicher geworden. So scheint es, dass die Beziehungen von RSS und VHP zur BJP wie zu anderen Parteien mehr eine Frage von Kalkül und Taktik, nicht von Loyalität sind. Dementsprechend haben sich die Beziehungen zwischen BJP und VHP nicht nur abgekühlt und versachlicht, auch das Konfliktpotential ist gewachsen. 30 Bisher stand die Partei nie gegen die Bewegung, auch wenn einzelne Fraktionen immer wieder in Konflikt zueinander geraten sind. Aufgrund der Differenz zwischen der Radikalität einer Bewegung und dem Zwang von politischen Notwendigkeiten, dem eine Partei mit Regierungsverantwortung unterliegt, hat sich dieses jedoch verändert. 31 Das lange Zeit unterstellte Bild vom Standbein (RSS/VHP) und dem Spielbein (BJP), 32 dem der Mythos eines einheitlichen Akteurs zugrunde liegt, ist der politischen Realität gewichen.
Die Regierungsjahre der BJP haben gezeigt, dass die Aneignungsstrategie des RSS auch ihre Schwächen hat. So besteht beim liberalen Mainstream der BJP-Elite die Vorstellung, dass es sich bei der BJP und dem RSS und anderen Bewegungsteilen um unterschiedlich ausdifferenzierte, kollektive Akteure handelt, die zwar in Wechselbeziehungen zueinander stehen, die aber sowohl überschneidende wie unterschiedliche Interessen vertreten. Insbesondere wurde offensichtlich, dass sich die BJP nicht nur als Spielbein betrachtet, also gewissermaßen eine nachrangige Funktion übernimmt, die lediglich darauf ausgerichtet ist, als eine Art Befehlsempfänger oder Sprachrohr der Bewegung zu fungieren. Die Partei bezog zunehmend Positionen, die sie immer mehr auf Distanz zur Kernideologie des RSS brachten. Infolgedessen hatte der VHP im Kontext der Ayodhya-Kontroverse zunehmend den Druck auf die BJP erhöht, um Regierung und Volk daran zu erinnern, dass es dem Hindu-Nationalismus um mehr geht als um den "Thron von Delhi". 33
Der Hindu-Nationalismus befindet sich aus eigener Perspektive in einer grotesken Situation. Um gemäß Hindutva die säkulare Staatskonzeption in eine hinduistische zu transformieren, musste er sich als eine anti-systemische Kraft konstituieren. Anstatt jedoch den gewünschten Wandel herbeizuführen, trug er, eher ungewollt als bewusst, zur Konsolidierung der bestehenden Ordnung bei. Entgegen den Forderungen des radikalen Flügels der Bewegung hat sich die BJP aufgrund politischer Notwendigkeiten zu einer Partei entwickelt, die weder die Struktur, die Spielregeln noch die normative Begründung des politischen Systems ablehnt und aktiv bekämpft.
Die alleinige Betrachtung der Entwicklung der Parteienlandschaft mag an dieser Stelle zu einer Zwischenbilanz verleiten, die wie folgt aussehen könnte: Der BJP gelang es, gegenüber anderen Regionalparteien oder vielmehr "dritten Kräften" der Dominanz des INC zunächst eine bemerkenswerte Opposition entgegenzustellen und den INC in freien und fairen Wahlen abzulösen. Dieses führte zu einem funktionierenden Quasi-Zweiparteiensystem. Sie füllte damit nicht nur das Machtvakuum, welches durch die schwere Krise des INC entstanden ist, sondern etablierte eine politische Alternative. In der Folge konnte einer drohenden Fragmentierung des Parteiensystems Einhalt geboten und die politische Ordnung als Ganzes stabil gehalten werden.
Den Hindu-Nationalismus aber als eine Art Stütze der indischen Demokratie zu bezeichnen, führt weit an der politischen und gesellschaftlichen Realität vorbei. Er wird nicht nur mit außerordentlich bedrohlichen Begleiterscheinungen in Verbindung gebracht, wie die bürgerkriegsähnlichen Zustände nach Ayodhya und den pogromähnlichen Ausschreitungen in Gujarat 2002, denen mehrere tausende Muslime zum Opfer fielen, sondern auch mit einem Sozial- und Staatskonzept, das dem Fundamentalkonsens der indischen Gesellschaft diametral entgegensteht.
Die BJP musste bereits früh erkennen, dass ihr Aufstieg auf den Bewusstwerdungs- und Partizipationsprozessen der neuen Mittelklasse basierte, welche sie temporär als Alternative zu identifizieren glaubte. Hindutva als Programm konnte weder eine ausreichende kohäsive Wirkung entwickeln, um die Sangh Parivar als eine geschlossene Bewegung zusammenzuhalten, noch erwies es sich im Rahmen einer nachhaltigen politischen Mobilisierung als brauchbar.
Die soziale Basis der BJP war mehr am wirtschaftlichen Wachstum sowie an Recht und Ordnung als an antiken Mythen und Gewalt gegenüber Minderheiten interessiert. Die Widerstände gegen Versuche, wenigstens ein sogenanntes Soft-Hindutva 34 zu realisieren, bestätigen diese Einschätzung. Dabei traten der Bewegung ihre eigenen Strukturen entgegen. Der von radikalen Strömungen gepflegte feindselige Habitus äußert sich nun nicht nur gegen äußere Gegner, sondern auch nach innen gegen eigene Bewegungsgenossen. Diese Konfrontation zwischen Bewegung und Partei wird es dem Hindu-Nationalismus auch in Zukunft weitgehend unmöglich machen, die indische Demokratie existentiell zu gefährden oder zu beschädigen. Diese hat sich auch unter ungünstigen Voraussetzungen in langfristiger Hinsicht als erstaunlich stabil erwiesen, trotz zwischenzeitlicher Labilität.
1 Dieses
"Zweiparteiensystem" kann grundsätzlich durch zwei sich
gegenüberstehende Koalitionen beschrieben werden, die jeweils
von einer der beiden großen nationalen Parteien geführt
werden (National Democratic Alliance/NDA - Bharatiya Janata
Party/BJP; United Progressive Alliance/UPA - Indian National
Congress/INC). Neben diesen beiden führenden politischen
Akteuren besteht das ständige Bestreben linker Strömungen
eine "dritte Kraft" zu etablieren.
2 Vgl. u.a. Christophe Jaffrelot, The
Hindu Nationalist Movement and Indian Politics, New Delhi 1999;
John Zavos, The emergence of Hindu nationalism in India, New Delhi
2000.
3 "Mehr abgestimmt als spontan, mehr
elitär als untertänig und mehr hasserfüllt als
mitfühlend". Amrita Basu, The dialectics of Hindu nationalism,
in: Atul Kohli (ed.), The Success of India's Democracy, Cambridge
2001, S. 167.
4 Savarkar verwendete den Begriff
Hindutva nach eigener Aussage in scharfer Abgrenzung zu dem, was
unter Hinduismus verstanden wird. In diesem Sinne soll Hindutva das
empfundene Fehlen nationaler Identität einfangen und
versuchen, eine zu enge Definition des Hinduismus, welche
Buddhisten, Sikhs und Jains von der Hindu-Gemeinschaft
ausschließen würde, zu vermeiden. Vgl. Vinayak Damodar
Savarkar, Hindutva: Who is a Hindu?, Mumbai 1999.
5 Savarkar versucht demnach die soziale,
religiöse Kategorie Hindu politisch zu interpretieren.
6 Ausgehend von der Überzeugung,
dass eine Gemeinschaft sozial konstruiert ist, soll "Code" als
kausaler Orientierungspunkt verstanden werden.
7 Vgl. V. D. Savarkar (Anm. 4), S.
72.
8 Zur Identitätsarbeit der Sangh
Parivar vgl. Parvathy Appaiah, Hindutva. Ideology and Politics, New
Delhi 2003.
9 H. V. Seshadri (RSS: a vision in
action, Bangalore 1988) listet über 150 Organisationen auf,
die in unterschiedlicher Weise mit dem RSS in Verbindung
stehen.
10 Vgl. Jacob Rösel, Ideologie,
Organisation und politische Praxis des Hindunationalismus, in:
Internationales Asienforum, 25 (1994) 3 - 4, S. 291.
11 Vgl. Hans-Joachim Klimkeit, Der
politische Hinduismus, Wiesbaden 1981, S. 261.
12 Vgl. Michael Schied, Die Evolution
einer fundamentalistischen Bewegung im Hinduismus: Der
Ayodhya-Konflikt, Berlin 1993, S. 278.
13 Zudem wird befürchtet, dass
eine Teilnahme an der Politik die Integrität und
Geschlossenheit ihrer Organisation gefährdet. Vgl. J.
Rösel (Anm. 10), S. 291ff.; Andreas Schworck, Ursachen und
Konturen eines Hindu-Fundamentalismus in Indien, Berlin 1997, S.
146.
14 Sie würde den religiösen
Minderheiten zu viele Privilegien einräumen und die
Hindu-Majorität ihrer "natürlichen" Vorrechte berauben,
so der Vorwurf.
15 Mehrmalige Verbote und das
restriktive Vorgehen gegenüber dem RSS seitens der
Notstandsregierung von Indira Gandhi (1975 - 77) bestärkte die
Organisation in dieser Haltung.
16 Vgl. Lise McKean, Divine Enterprise.
Gurus and the Hindu Nationalist Movement, London 1996, S.
115.
17 Vgl. Clemens Six,
Hindu-Nationalismus und Globalisierung, Frankfurt/M. 2001, S.
61.
18 Vgl. Tapan Basu u.a., Khaki Shorts
Saffron Flag. A Critique of the Hindu Right, New Delhi 1993, S.
87.
19 Vgl. A. G. Noorani. The RSS and the
BJP - A Division of Labour, New Delhi 2000.
20 Indian National Congress (siehe Anm.
1).
21 Korruptionsskandale und die
autoritäre Herrschaft Indira Gandhis ließen die BJP als
Partei mit "weißer Weste" und klarer Zielsetzung (Vertretung
der Interessen der hinduistischen Mehrheit) als politische
Alternative zum diskreditierten Kongress erscheinen.
22 Insbesondere durch ausgeliehene
hauptamtliche Mitarbeiter und Logistik, weniger durch finanzielle
und direkte institutionelle Abhängigkeit.
23 Vgl. M. Schied (Anm. 12), S.
280.
24 Vgl. Neeladri Bhattacharya, Myth,
History and the Politics of Ramjanmabhumi, in: Sarvepalli Gopal
(ed.), Anatomy of a Confrontation. The Babri-Masjid-Ramjanmabhoomi
issue, New Delhi 1991, S. 132ff.
25 Die Konzentration des
Hindu-Nationalismus auf Gott Ram findet seinen Ursprung in dem
Versuch der Essentialisierung des Hinduismus nach monotheistischen
Gesichtspunkten (Semitisierung). Als Vorbilder dienen Islam wie
Christentum, die sich aus ihrer Sicht durch ein einheitliches Dogma
und einer zentralen Gottheit auszeichnen.
26 An dem Gewaltakt entzündeten
sich die schwersten Unruhen seit der Teilung des britischen
Kolonialreiches in mehrere Nachfolgestaaten entlang religiöser
Trennungslinien. Vgl. Siegfried O. Wolf u.a., A Political and
Economic Dictionary of South Asia, London 2006, S. 17, 125,
328.
27 Vgl. C. Six (Anm. 17), S. 99.
28 Vgl. M. Schied (Anm. 12), S.
610.
29 66,2 % der Stadtbevölkerung,
67,5 % der Hochschulabsolventen und 63,8 % der höherkastigen
Hindus waren gegen die Zerstörung. Vgl. Subrata K. Mitra,
Demokratie und sozialer Wandel in Indien, in
KAS-Auslandsinformation, 8 (1999), S. 15f.
30 So äußerte der
VHP-Präsident Vishnu Hari Dalmia in einem Interview mit dem
Autor am 24. 9. 2004 in Neu Delhi, dass die BJP eine Partei sei,
die keine Hindu-Interessen vertrete.
31 Die offene Infragestellung des
Premierministers A. B. Vajpayee (BJP) sowie die bewusste
Gefährdung der von ihm geführten Regierungskoalition sind
hierfür ein sichtbarer Ausdruck.
32 Eine Metapher, die im Zuge der
Beschreibung des Verhältnisses zwischen Partei und Bewegung
entstanden ist und davon ausgeht, dass die Partei die Interessen
der Bewegung parlamentarisch vertritt.
33 Bernard Imhasly, Konflikt in Indiens
Hindu-Bewegung, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 5. 3. 2002,
S. 9.
34 Das heißt eine partielle,
politikfeldbezogene Umsetzung von hindu-nationalistischen
Vorstellungen, u.a. in Bildung und Wissenschaft.