BELGIEN
Neue Gespräche über eine »gründliche Staatsreform« sollen das Land aus der Dauerkrise führen
Obwohl die politische Krise in Belgien andauert, ist das Land aus den Schlagzeilen verschwunden. Als hätte man im restlichen Europa keine Lust mehr, diesen schwierigen Kleinstaat zur Kenntnis zu nehmen, der einfach nicht zur Ruhe kommen will. Der Überdruss mit den Belgiern hat einen ziemlich einleuchtenden Grund. Man versteht sie nicht mehr. Es geht einem mit dem Dauerstreit zwischen Flamen und Wallonen inzwischen so wie mit einem heillos zerstrittenen Ehepaar im eigenen Bekanntenkreis. Da denkt man sich auch irgendwann, lasst euch doch endlich scheiden und gebt Ruhe.
Ein Staat kann sich allerdings nicht so einfach scheiden lassen. Belgien schon gar nicht. Man kann sich zwar vieles vorstellen: ein unabhängiges Flandern, eine nach Frankreich abdriftende Wallonie und als Überbleibsel die kleine Deutschsprachige Gemeinschaft, die sich unter die Fittiche Luxemburgs begibt. Doch was wird in diesem Szenario aus dem zweisprachigen Brüssel, der Hauptstadt Belgiens, aber auch Flanderns, und Sitz der europäischen Institutionen? Und wer kümmert sich um die gemeinsam angehäuften Schulden des Landes, die sich auf mehrere Hundert Milliarden Euro belaufen?
Nein, die Belgier scheinen auf Gedeih und Verderb miteinander auskommen zu müssen. Sie müssen sich etwas einfallen lassen, wie die Regionen des Landes noch selbstständiger werden können als sie es ohnehin schon sind. Wenn Belgiens Politiker endlich einsähen, dass sie mit dieser Anstrengung zum Modell in Europa werden könnten, wäre schon viel gewonnen. Geht es doch auch in Europa ständig um die Frage, wie man die politischen Aufgaben am besten auf die verschiedenen Ebenen verteilt.
Lange Zeit galten die Belgier als vorbildlich: Wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten geschafft hatten, ihr Staatswesen fünfmal zu reformieren, wie sie ohne Gewalt und Blutvergiessen aus ihrem Zentralstaat einen Bundestaat gemacht haben und dabei zwei sehr unterschiedliche Volksgruppen beieinander hielten, das hat Respekt abgenötigt. Sprach man vom "belgischen Kompromiss", galt das als großes Lob. Dieser Rückblick auf ein jahrzehntelang erfolgreiches Krisenmanagement nährt auch jetzt wieder den Optimismus, selbst wenn die neue Politikergeneration bisher enttäuscht hat. Auch der neue Premier Yves Leterme ist mit der Reform nicht vorangekommen und hat - allerdings vergeblich - seinen Rücktritt eingereicht.
Zu den Belgien-Optimisten gehört Karl-Heinz Lambertz. Er kennt das kleine Zehn-Millionen-Einwohner-Land wie nur wenige. Er meint: "Wer es fünfmal geschafft hat, sich zu reformieren, wird es auch ein sechstes Mal schaffen." Lambertz ist Ministerpräsident einer autonomen "Gemeinschaft", die unter dem Dach der Wallonie im Osten des Landes 70.000 deutschsprachige Belgier verwaltet. Er ist Verfassungsrechtsexperte und wurde auch deshalb von König Albert II. zum Krisenmanager berufen. Als eine Art letztes Aufgebot soll Lambertz zusammen mit zwei weiteren frankophonen Politikern dafür sorgen, dass im Herbst neue Gespräche über eine "gründliche Staatsreform"` in Gang kommen können. Mitte September sollen die drei ihren endgültigen Bericht abliefern. Lambertz gibt sich zuversichtlich. Er habe unter seinen bisherigen Gesprächspartnern niemanden getroffen, dem "die Zukunft Belgiens gleichgültig ist".
Man mag den Kopf über dieses Land schütteln, das immer wieder "Vermittler" einschalten muss, weil die gewählten Politiker nichts voranbringen. Dabei besitzt Belgien so viel, um gut für die Globalisierung gerüstet zu sein: Mehrsprachigkeit, politische Erfahrung, kulturelle Vielfalt, einen europäischen Geist. Doch der lähmende Konflikt zwischen Flamen und Wallonen wurzelt zu tief in der Geschichte. Es geht dabei um viel Irrationales, um Emotionen und Misstrauen, um unterschiedliche Mentalitäten und große Minderwertigkeitskomplexe. Ein richtiges Beziehungsdrama eben.
Im Zentrum des Streits steht die Sprachgrenze: Dieses Wort scheint nicht zu einer Europäischen Union mit offenen Grenzen zu passen, die mit Mehrsprachigkeit lebt und ihre Bürger ermuntert, möglichst viele Sprachen zu lernen. Der Zentralstaat Belgien hat sich nur deshalb problemlos in einen Bundestaat mit drei Regionen verwandeln können, weil genau festgelegt worden war, auf welchem Territorium welche Sprache herrscht. Denn die Hauptsprachen des Landes - das Niederländische im Norden und das Französische im Süden - haben nie friedlich miteinander koexistiert.
Als Belgiens konstitutionelle Monarchie 1830 aus der Taufe gehoben wurde, war Französisch die vorherrschende Sprache. Auch wer in Flandern reich und einflussreich war, sprach nur französisch. Denn Niederländisch galt als Sprache der "Domestiken und der Haustiere", wie der Brüsseler Schriftsteller Geert van Istendael einmal spottete. Die Überlegenheit des Französischen wurde lange Zeit auch wirtschaftlich unterfüttert. Kohle und Stahl hatten aus der Wallonie eine prosperierende Region gemacht. Das ländliche Flandern galt dagegen als Armenhaus. In den 1960er-Jahren aber haben sich die ökonomischen Gewichte total verschoben. Flandern mit dem Hafen Antwerpen und vielen neuen, modernen Industrien ist heute Belgiens Wirtschaftsmotor. Die Wallonie dagegen hat ihre Haupteinnahmequellen verloren und sich von ihrer Strukturschwäche noch nicht richtig erholt.
Die Zeiten haben sich gewandelt, doch Flandern hat die Unterdrückung durch die arroganten Frankophonen nie vergessen. Wie ein Gift ist diese historische Erfahrung in die kollektive Erinnerung eingesickert und prägt bis heute das Verhalten von Funktionären und Mandatsträgern, aber auch von Wählern. Zwar wollen auch die meisten Flamen nicht, dass Belgien sich spaltet. Es stimmt aber auch, dass sie besonders gerne jene Parteien wählen, die auf größerer flämischer Eigenständigkeit bestehen.
Ohne die Geschichte kann man die Gegenwart nicht verstehen. So etwa die Meldung, dass die Gemeinde Zaventem, die den Internationalen Flughafen beherbergt, jeden Bürger auffordert, einen Dolmetscher mitzubringen, wenn er sich an einen Behördenschalter der Gemeinde begibt. Flämische Beamte seien nämlich gesetzlich verpflichtet, nur niederländisch zu sprechen. Wer Niederländisch nicht könne, habe eben das Nachsehen. Mit Fremdenfeindlichkeit habe das nichts zu tun, erläutert der Bürgermeister. Es lebten schließlich 131 Nationalitäten in seiner Gemeinde. Anderswo in Europa wäre eine solche Gemeinde stolz, wenn ihre Beamten den Zugereisten auf Englisch behilflich sein könnten. Nicht so in Flandern. Hier mauert man sich in die eigene Sprache ein. Sie ist immer noch eine Verteidigungswaffe im Kampf um die eigene Identität. Belgiens Krise hat aber auch handfeste ökonomische Gründe. Flandern will im Wettstreit der europäischen Regionen ganz vorne mitspielen. Die ohnehin ungeliebte und strukturschwächelnde Wallonie wirkt da wie ein Klotz am Bein. Schliesslich fliesst viel in Flandern erwirtschaftetes Geld in den belgischen Bundeshaushalt, aus dem wiederum der sozial bedürftigere Süden überproportional bedacht wird. Viele flämische Politiker glauben, dass die Wallonen selbst sich nicht genug anstrengten und lieber die Alimente aus dem Norden verprassten. Man verweist darauf, dass die Probleme im Norden und im Süden ganz unterschiedlich seien. Flandern mit seinen vielen alten Leuten hat ein Rentenproblem, die Wallonie kämpft dagegen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit. Darum pocht Flandern auf mehr Kompetenzen in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik, um für das eigene Territorium massgeschneiderte Lösungen zu finden. Das aber löst bei den Frankophonen Ängste aus. Sie wollen, dass weiter der Zentralstaat die Ausgaben für die soziale Sicherheit in Belgien regelt und aus dem Bundesetat bezahlt, in den die Flamen mehr einzahlen als die Wallonen. Bei dem Streit geht es auch um unterschiedliche Mentalitäten. Wie die Bruchkante eines Erdbebengebiets verläuft durch Belgien die Trennlinie zwischen Nord- und Südeuropäern. Der Norden steht für Effizienz, Sachlichkeit, Sparsamkeit und Eigeninitiative, der Süden für einen gewissen Schlendrian, aber auch für einen hierarchischen Staatsaufbau, für Rituale und Gefühle. So rühmt sich Flandern, die hohe Arbeitslosigkeit unter Migrantenkindern gut in den Griff zu bekommen. Ein Vergleich mit der Wallonie ist nicht möglich, weil man sich im frankophonen Süden scheut, Ausländer in der Statistik hervorzuheben. Man hält das für diskriminierend.
Solche Unterschiede können nerven. Belgien muss trotzdem weiter damit leben und das Beste daraus machen. Denn das Land kann sich seine Dauerkrise schon längst nicht mehr leisten. Es gibt zwar eine beliebte These, die besagt, die belgische Regierung sei so fest eingebunden zwischen der Europäischen Union oben und den belgischen Regionen unten, dass es gar nicht so wichtig sei, ob sie funktioniere oder nicht. Das aber ist ein Trugschluss. Belgien kommt die Krise teuer zu stehen. Die ING-Bank hat kürzlich in einem Bericht festgestellt, dass das Land, wenn es neue Schulden aufnimmt, immer höhere Zinsen zahlen muss. Ausländische Investoren verlangen nämlich wegen der belgischen Krise inzwischen eine satte Risikoprämie. Allein dieser Zinsaufschlag kostet den Staat zwischen 15 und 30 Millionen Euro jährlich.