Polen
Reinhold Vetter rechnet mit der Kaczynski-Herrschaft ab und setzt auf Tusks Reformkurs
Hohe Wachstumsraten, steigende Produktivität, sinkende Arbeitslosigkeit und umfangreiche ausländische Direktinves-titionen: Polens Wirtschaft prosperiert, doch kaum jemand nimmt davon Kenntnis. Stattdessen machte das Land in den vergangenen Jahren überwiegend negative Schlagzeilen: Blockade im EU-Reformprozess, antideutsche Attacken, Intoleranz gegenüber Homosexuellen. Damit waren hierzulande keine Sympathien zu gewinnen, und diese Schadensbilanz haben nach Meinung von Reinhold Vetter vor allem die Kaczynski-Zwillinge zu verantworten: Jaroslaw als Chef der Partei "Recht und Gerechtigkeit" und Ministerpräsident von Juli 2006 bis zur Abwahl im Oktober 2007 sowie sein Bruder Lech, der amtierende Staatspräsident.
Reinhold Vetter, langjähriger Korrespondent von ARD und "Handelsblatt" in Warschau, richtet den Blick im Titel seines Buches in die Zukunft. Sein Thema ist jedoch die Entwicklung Polens vor allem in den vergangenen drei Jahren, vom Machtantritt der nationalkonservativen Kaczynskis im September 2005 bis Anfang dieses Jahres, also bis zu den ersten Monaten der neu gewählten Regierung unter Donald Tusk von der liberal-konservativen Bürgerplattform.
Wer die Medienberichterstattung über Polen in diesem Zeitraum kontinuierlich verfolgt hat, der erfährt von Vetter nichts wirklich Neues. Dennoch ist das Buch eine kenntnis- und detailreiche, gut geschriebene Darstellung der jüngeren Zeitgeschichte, mit Rückblenden bis zur Wende im Jahre 1989. Was in Deutschland manchmal nur noch Kopfschütteln hervorruft, etwa die Rolle der Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach als Lieblingsfeindbild polnischer Politiker und Medien - der Autor spricht hier von einer "Obsession" -, wird geschildert vor dem Hintergrund der politischen Kultur des Landes. Darin wirken immer noch das nationale Selbstverständnis und die Richtungskämpfe in der polnischen Republik der Zwischenkriegszeit nach. Vetter versäumt nicht, auf Besonderheiten wie das labile Parteiensystem, die starke Position der katholischen Kirche im öffentlichen Leben und den in der historischen Entwicklung des Landes begründeten, aus westlicher Sicht übertriebenen Nationalismus hinzuweisen, dessen Folgen Auswüchse wie die Ablehnung von nationalen Minderheiten, Fremdenfeindlichkeit und latenter Antisemitismus sind.
Von Journalis-ten geschriebene Bücher bündeln zumeist tagesaktuelle Ereignisse, versuchen diese einzuordnen und Trends aufzuzeigen. Ihr Nutzwert sinkt mit steigender Inaktualität relativ rasch. Vetters Buch ist dennoch kein Schnellschuss mit qualitativen Mängeln. Es ist schlüssig aufgebaut und führt den deutschen Leser, dem die polnische Innenpolitik als Buch mit sieben Siegeln erscheinen mag, in die Machtverhältnisse beim östlichen Nachbarn ein. Der Autor dröselt das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen politischen Gruppierungen auf und macht damit manche Entscheidung aus Warschau, die im Ausland kaum verständlich erscheint, zumindest nachvollziehbar. Sein Buch ist damit in jedem Fall eine gute Einführung für alle, die sich mit der politischen Situation in Polen beschäftigen wollen.
Hinzu kommt: Der Autor bezieht klar Position. Er wünscht der Regierung Tusk eine volle Wahlperiode und macht die Kaczyn-skis und ihr Umfeld für die meisten Fehlentwicklungen verantwortlich. Sein Urteil ist eindeutig: Die Kaczynskis haben Polen geschadet, sie haben das Land in seiner Entwicklung zurückgeworfen, auch weil es ihnen vorrangig um Macht- und weniger um Sachpolitik ging. Vetter bestätigt damit das negative Image der Brüder in den deutschen Medien. Insofern ist sein Buch vollkommen überraschungsfrei - wenn man von dem Hinweis absieht, dass die von der Kaczynski-Regierung verwendete Parole "Nizza oder der Tod" im Zusammenhang mit der EU-Reform gar nicht von dieser stammt, wie man vermuten würde, sondern von Tusks Bürgerplattform.
Wohin steuert Polen? Das schwierige Erbe der Kaczynskis.
Ch. Links Verlag, Berlin 2008; 207 S., 16,90 ¤