Prager Frühling
Vor 40 Jahren bereitete die Sowjetunion den Reformen in der Tschechoslowakei ein gewaltsames Ende
Womit können wir helfen?", fragte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Leonid Breschnew, den tschechoslowakischen KP-Chef Alexander Dubcek. Nach einigen Telefonaten forderte der Kreml-Herrscher dann rasche Entscheidungen: Ob sein Protegé Dubcek die Repressalien selbst beginnen wolle oder ob man ihm dabei helfen solle. "Sascha, ich wollte, dass du verstehst, dass wir einigermaßen nervös werden", ließ Breschnew seinen politischen Ziehsohn wissen. Dubcek lehnte das brüderliche "Hilfsangebot" jedoch ab. Am 13. August drohte ihm Breschnew direkt: "Siehst du, Sascha, diese Maßnahmen werden wir sicher ergreifen." Eine Woche später wurde aus der Drohung brutale Realität.
Mit dem Einmarsch des Warschauer Pakts in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 endete der "Prager Frühling". Die sowjetische Führung fürchtete, dass die Reformen die Macht der kommunistischen Partei in Prag schwächen könnten und die Anführer der Reformbewegung nicht mehr in der Lage sein würden, das Land im sozialistischen Lager zu halten. "Wir werden die Tschechoslowakei nicht aufgeben", hatte das Politbüro der KPdSU bereits am 10. April 1968 erklärt. Zugleich ließ es nichts unversucht, um die Krise im Satellitenstaat zu beenden. Als dies nicht zum gewünschten Ergebnis führte, setzte Moskau - unterstützt und gedrängt von den kommunstischen Führungen in Polen, Ungarn, Bulgarien und der DDR - seine Armee in Bewegung.
Zum 40. Jahrestag des "Prager Frühlings" veröffentlichte nun das österreichische Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung unter seinem Direktor Stefan Karner zwei grandiose Bände. Der erste Band enthält eine Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze, der zweite die wichtigsten Archivdokumente. "Es war ein Faszinosum, diese Dokumente zusammenzustellen", betont Projektleiter Karner.
Die knapp 3.000 Seiten umfassende Publikation ist das Resultat eines zweijährigen internationalen Projektes, in dem das wissenschaftliche Institut aus Graz mit dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte, dem Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und anderen Partnern zusammenarbeitete. Insgesamt beteiligten sich mehr als 80 Historiker und Dutzende Forschungsinstitute weltweit an diesem herausragenden Werk, das die Ereignisse von 1968 detailliert analysiert. Die Veröffentlichung bis heute geheimer sowjetischer Archivdokumente, und vor allem der Protokolle des Politbüros des ZK der KPdSU, die Berichte der sowjetischen Diplomaten und Breschnews Telefongespräche geben Antworten auf zahlreiche offene Fragen in Bezug auf die politischen Entscheidungsprozesse in Moskau, die schließlich zum Einmarsch führten.
Am 5. Januar 1968 wählte die KPC Alexander Dubcek zu ihrem Ersten Sekretär. Damit begann der "Prager Frühling", das heißt eine von der "Parteispitze verordnete Reform des sozialistischen Modells", weiß Projektleiter Stefan Karner. Kurz darauf unterstützten breite Bevölkerungsschichten die Reformpolitik, so dass der Druck auf Dubcek wuchs, weitere Freiheiten zu genehmigen. Der idealistische Funktionär, der 16 Jahre in der Sowjetunion gelebt und die dortigen Parteischulen durchlaufen hatte, glaubte, einen "Sozialismus mit menschlichem Gesicht" in seiner Heimat verwirklichen zu können.
Gemäß einem "Aktionsprogramm" vom April 1968 sollte das Land in den kommenden zwei Jahren reformiert werden: Die Partei wollte auf ihr Gewaltmonopol verzichten und die Privatisierung kleiner und mittlerer Unternehmen zulassen. Die Vorzensur sollte aufgegeben und Bürgerrechte wie Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit gewährt werden. Auch wenn Dubcek den Sozialismus öffentlich nie in Frage stellte, die KP-Zentralen in Osteuropa waren alarmiert. Sie wendeten sich an Moskau und forderten ein hartes Vorgehen gegen diese "Konterrevolution". Unterdessen veröffentlichten am 27. Juni in Prag 68 Intellektuelle das "Manifest der 2.000 Wörter". Eine erneute Provokation der "Sozialistischen Bruderstaaten", denn die Verfasser verlangten eine weitere Demokratisierung des Landes unter Ausschluss der kommunistischen Partei.
Der Moskauer Führung war klar, dass sie auf keinen Fall ihre sicherheitspolitische Position in Zentraleuropa aufs Spiel setzen und abwarten würde, welchen politischen Kurs die Tschechoslowakei am Ende einschlägt. Die Geheimakten des Politbüros in Moskau belegen, dass der Verteidigungsminister bereits am 22. Juli 1968 beauftragt wurde, "Maßnahmen für die Zeit nach dem Einmarsch zu ergreifen". Die Intervention war die Geburtsstunde der so genannten "Breschnew-Doktrin": Danach war die Sowjetunion entschlossen, notfalls auch militärische Mittel einzusetzen, um die halbsouveränen osteuropäischen Staaten in ihrer Einflusszone zu halten. Stefan Karner glaubt, dass die USA diese militärisch-politische Doktrin Moskaus im Gegenzug benutzten, um die NATO zu festigen.
Die Führung der DDR hatte von Anfang an keinen Zweifel an ihrer feindseligen Haltung zu den Ereignissen in Prag aufkommen lassen. SED-Chef Walter Ulbricht bewertete die Entwicklung klar als "Konterrevolution". "Seine Aggressivität im Kampf gegen die Reformer im Nachbarland wurzelte in seiner Angst um die eigene Macht", betont Professor Manfred Wilke. Ulbricht fürchtete nichts mehr als ein "Überschwappen der Reformbewegung auf die DDR". Den Machthabern in Prag warf er sogar vor, "einen psychologischen Krieg gegen die DDR" zu führen.
Die beiden DDR-Divisionen, die 7. Panzerdivision und die 11. motorisierte Schützendivision, die für den Einmarsch in die Tschechoslowakei bereit standen, durften dennoch am Angriff nicht teilnehmen. Die sowjetische Führung war klug genug, einen Vergleich mit dem Überfall der Wehrmacht zu vermeiden. Nur wenige Unterabteilungen der NVA befanden sich in der Tschechoslowakei: zum Schutz der Stäbe und für Fernmeldetechnik. "Es ist ganz sicher, dass kein deutscher Soldat auf dem Staatsgebiet der Tschechoslowakei war. Wir haben sie zurückgehalten", versicherte Breschnew Präsident Svoboda. "Unter uns gesagt, die deutschen Genossen waren beleidigt, dass man ihnen irgendwie Misstrauen entgegenbrachte", fügte der Generalsekretär laut den Geheimprotokollen des Politbüros hinzu. Und: "Unsere deutschen Genossen, vor allem Ulbricht, sind beleidigt, weil wir Ihnen nicht erlaubt haben, an den militärischen Aktionen teilzunehmen", bekräftigte Breschnew. Der Historiker Manfred Wilke bringt es auf den Punkt: "Der Feldherrenruhm blieb Walter Ulbricht versagt."
Im Unterschied zu den Legenden über das Märtyrertum der Reformkommunisten bewerten Wissenschaftler und die ehemaligen Dissidenten den "Prager Frühling" und die Person Alexander Dubcek heute eher zurückhaltend. Im Jahr 1968 wurde die Mär vom "demokratischen Sozialismus" geboren, der sowjetischen Panzern zum Opfer fiel. Dabei ging es den Anführern der kommunistischen Partei nicht um Demokratie, sondern lediglich um eine Reform des Sozialismus. Die Bemühungen des nächsten Reformkommunisten, des sowjetischen KP-Chefs und Präsidenten Michail Gorbatschow, endeten 1991 aus sozialistischer Sicht ebenfalls im Desaster: Er wollte - wie Alexander Dubcek - den "Kasernen-Sozialismus" modernisieren, um ihn so weiter zu entwickeln. "Perestrojka" und "Glasnost" führten jedoch zum Zerfall des sowjetischen Imperiums. Es war der endgültige Beweis dafür, dass das totalitäre System nicht reformierbar ist.
Zu guter Letzt: Für solch eine grundlegende historische Arbeit ist der Preis der beiden Bände denkbar günstig. Denn die Autoren verzichteten auf "üppige Honorare", wie Karner dankbar vermerkt. So können nicht nur Bibliotheken, sondern auch interessierte Leser die Bücher erwerben und die sensationellen Dokumente in Ruhe zu Hause studieren.
Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Band 2: Dokumente
Böhlau Verlag, Köln 2008; 1.589 S., 49,90 ¤