Reinhard krumm
Der Leiter der Ebert-Stiftung in Moskau kritisiert das undifferenzierte Bild von Russland in westlichen Medien
Herr Krumm, seit rund einem Jahr leiten Sie die Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau. Haben Sie mit einer Krise wie dem Georgienkrieg gerechnet?
In Russland und im südlichen Kaukasus kann man wenig ausschließen. Auch keinen georgisch-russischen Krieg um zwei Regionen, die sich seit 1992 und 1993 de facto als unabhängig von Georgien betrachten. Russland hat ihr Bestreben stets unterstützt. Ganz offensichtlich hat die politische Führung in Tilflis sträflich unterschätzt, wie sehnsüchtig Moskau auf einen kleinen siegreichen Krieg nach US-amerikanischem Vorbild gehofft hat. Payback-Time hat die New York Times geschrieben.
Wie wird sich die Krise lösen lassen?
Die Lösung dieses Konflikts wird sicherlich lange dauern. Russland fühlt sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gedemütigt: Nato-Osterweiterung, orangene Revolutionen, die Unabhängigkeit des Kososvo. Gerade die Unabhängigkeit dieses Gebiets, die alle russischen Politiker kritisiert haben, war mit ein Grund für den aktuellen Konflikt um Südossetien. Russland fühlt sich nun stark genug, in den letzten Monaten der Präsidentschaft von Georg W. Bush der Supermacht zu zeigen, dass Russland wieder da ist - ein Land mit einem immer noch gewaltigen Arsenal von Atomraketen. Vor diesem Hintergrund sind offene und ehrliche Gespräche mit allen Beteiligten zu führen. Schließlich wünscht sich die Welt friedliche Olympische Spiele - 2014 in Sotschi, unweit der georgischen Provinz Abchasien.
In den 1990er-Jahren haben Sie unter anderem für den "Spiegel" aus Russland berichtet. Wie hat sich die russische Gesellschaft seit damals verändert?
Es ist schon ein anderes Land, in das ich vor über einem Jahr zurückgekehrt bin. Als ich 1998 Russland verlassen habe, befand es sich in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Stimmung in der Bevölkerung war fatalistisch, es gab kaum Hoffnung bei den Menschen, dass der Wandel zu einem guten Ende führen würde. Das ist heute bei vielen Bürgern anders: Die zwei Amtsperioden von Präsident Wladimir Putin und der Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre von durchschnittlich knapp sieben Prozent haben den Menschen das Vertrauen wiedergegeben.
Vertrauen in einen erfolgreichen Wandel von Politik und Gesellschaft?
Ja, wobei die Mehrzahl der Bevölkerung in Russland glaubt, dass das nur mit einem starken Präsidenten zu vollziehen ist. Anders als im Westen empfinden viele Russen die von Putin installierte gelenkte Demokratie als Segen im Vergleich zu den als chaotisch empfundenen Jahren unter seinem Vorgänger Boris Jelzin. Gleichzeitig ist die Lage sehr viel komplexer als das von westlichen Medien mittlerweile meist stereotyp gezeichnete Bild von der neuen Rohstoff-Supermacht Russland zeigt. Für mich existiert ein doppeltes Russland - in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft.
Wie meinen Sie das?
Es existieren zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und eigentlich nicht Platz haben in einem Land. Das positive und das negative Russland. Der Aufschwung zum Beispiel hat natürlich nicht nur Gewinner produziert, die in den europäischen Metropolen die Autohäuser und Modeboutiquen leerkaufen. Zusammen mit der russischen Akademie der Wissenschaften haben wir vor kurzem eine Umfrage durchgeführt. Danach bezeichnen sich 16 Prozent der Russen als arm, weitere 16 Prozent als der Armut nahe, 27 Prozent geben an, sich gerade über Wasser halten zu können. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Immerhin 41 Prozent finden, dass sie wirtschaftlich ordentlich dastehen, von denen man vermutlich zwei Prozent zu den superreichen Russen zählen kann. Die Schere zwischen Arm und Reich ist sehr schnell weit auseinandergegangen. Es ist also kein Wunder, wenn der neue Präsident Dmitri Medwedew in einer seiner ersten Reden ankündigt, dass der Kampf gegen die Armut in den nächsten Jahren höchste Priorität haben müsse.
Welche Konzepte und Strategien gibt es für diesen Kampf?
Die politische Führung hat noch unter Präsident Putin erkannt, dass vor allem die Korruption bekämpft werden muss. Darüber hinaus muss es Reformen des Finanzsystems und der Steuerverwaltung geben. Die Frage ist, wie schnell die an sich richtige Analyse auch in effizientes Handeln umgesetzt werden kann. Der bürokratische Apparat kann enorme Beharrungskräfte entwickeln, um Reformen zu verzögern oder ganz zu blockieren, auch in einer "souveränen" Demokratie unter Putin oder Medwedew.
Wie kommt daheim in Russland das gerne ausgestellte neue Selbstbewusstsein in den internationalen Beziehungen an?
Die russische Außenpolitik gibt ein tief empfundenes Gefühl der Menschen in Russland wieder, dass man in den 90er-Jahren viel zu schlecht weggekommen ist, am Boden lag und Spielball fremder Mächte wurde und erst jetzt wieder ernst genommen wird. Während Jelzin von offizieller Seite gern als Zerstörer dargestellt wird, nimmt Putin die Rolle des Stabilisators ein. Es gibt tatsächlich nicht viele Menschen in Russland, die sich nach der Außenpolitik in den Jahren unter Boris Jelzin zurücksehnen.
Ist Russland in den vergangenen Jahren patriotischer geworden?
Sicherlich: Der Patriotismus spielt eine wichtige Rolle in Russland. Das hat er schon immer getan. Auf der einen Seite gibt es die Militärparade am 9. Mai. Gleichzeitig könnte man aber behaupten, dass er sich wie in Deutschland in Anfängen weniger ernst und mehr spielerisch äußert als früher: Bürger freuen sich über Medaillen bei Olympia, die Weltmeisterschaft im Eishockey oder über das gute Abschneiden der Fussballer bei der Europameisterschaft. Auch in Moskau wie in Berlin hatten viele Menschen Fähnchen am Auto. Die Enttäuschung über das Ausscheiden hat sich auch nicht mehr wie noch 2002 bei der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea in Randale auf den Straßen niedergeschlagen.
Würden Sie also sagen, dass sich die russische Zivilgesellschaft unaufhaltsam modernisiert?
Auch hier wieder: ja und nein. Es gibt zu große Unterschiede zwischen den Städten und dem Land. Zum einen eine schnell wachsende, sehr lebendige, Neuem gegenüber aufgeschlossene Stadtbevölkerung, zum anderen ganze Landstriche wie in Sibirien, die wirtschaftlich immer weiter zurückfallen. Die russische Gesellschaft ist einfach seit fast 20 Jahren enormen Transformationsprozessen ausgesetzt. Und da gibt es Entwicklungen, die sich teilweise widersprechen wie die verbreitete ausländerfeindliche Einstellung gegenüber ethnischen Minderheiten und die immer wieder geführte Debatte unter Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten, wie ein multiethnisches Russland aussehen könnte.
In Deutschland hören wir vor allem von Übergriffen gegen Menschen aus dem Kaukasus.
Auch gegenüber Bürgern aus den zentralasiatischen Ländern: Schikanen, Anschläge und sogar Morde. Viele dieser Menschen finden in ihren Heimatländern keine Arbeit und versuchen, Geld in Russland zu verdienen. Ohne sie wären so manche Branchen wie der Bausektor vermutlich gar nicht funktionsfähig. Zum Glück gibt es noch immer Nichtregierungsorganisationen und engagierte Politiker, die für Aufklärung sorgen.
Wie wird die russische Gesellschaft in zehn Jahren aussehen?
Sollte es Russland gelingen, sich vom Rohstoffexporteur zu einer Herstellernation zu entwickeln, wird die Gesellschaft davon profitieren und sich nach erlangtem Wohlstand politisch engagieren. Davon profitieren dann sowohl der Staat als auch die Bürger. Sollte das nicht eintreten, sollte Russland die verarbeitende Industrie nicht voranbringen können, kommen schwere Zeiten auf das größte Land der Erde zu. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn Russland hat es in der Hand, nach der Transformation nun einen nachhaltigen Modernisierungsprozess einzuleiten, an dem alle beteiligt sind und von dem alle profitieren.
Das Interview führte Tobias Asmuth.