Tatarstan
Die autonome Republik ist ein Schmelztiegel der Religionen und Kulturen. Eine Reportage aus der Hauptstadt Kasan
Come as you are" - der Hit der Grunge-Band Nirvana aus den 90er-Jahren beschallt den kleinen Raum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kasan. Zwei Mädchen in Jeans und Turnschuhen tanzen einen Foxtrott dazu. Die kleine Kirche ist fast 300 Jahre alt, die Bestuhlung mit lila Stoff bezogen, modern. Auch die 21-jährige Julia kommt gern hierher. Das wäre nicht weiter ungewöhnlich. Aber: Julia ist Muslimin und pflegt einen sehr pragmatischen Umgang mit beiden Religionen.
Die kleine Republik Tatarstan gilt seit Jahrhunderten als Schmelztiegel unterschiedlicher Religionen und Kulturen. Wird dies auch künftig so bleiben, in einer Zeit, in der Konflikte, entzündet an der Zugehörigkeit zu bestimmten Religionen und Ethnien, allzu oft die internationalen Nachrichtensendungen dominieren? Julia, die die Orgelmusik und die Predigten der Protestanten mag, findet: Inhaltlich würden sich beide Religionen ja sowieso ähneln, "wegen des Alten Testaments". Sie lächelt so froh, als habe sie gerade den Stein der Weisen aus einer Packung Fimo geknetet. Julia studiert Germanistik an der Kasaner Universität. Während sie spricht, streicht sie sich das dunkelblonde Haar aus dem Gesicht. "Nein", sie trage kein Kopftuch, sagt sie, ihre Eltern möchten das nicht. Außer in der Moschee - auch da ginge sie gerne hin, dies aber eher an Feiertagen.
Wer in Kasan nach Gotteshäusern Ausschau hält, merkt schnell: Vielfalt ist in der Hauptstadt Konzept: Moscheen, Kathedralen, Kirchen - Diskussionen wie etwa um den Moscheebau in Köln sind hier schwer vorstellbar. Etwas mehr als die Hälfte der 3,7 Millionen Einwohner der autonomen Republik sind Tataren, knapp 40 Prozent sind Russen, der Rest setzt sich aus acht anderen Ethnien zusammen, die sich eine Fläche von der Größe Bayerns teilen.
Die Tataren sind fast ausschließlich Muslime. Die Russen gehören überwiegend dem orthodoxen Christentum an, und über einen Teil von ihnen "wacht" der 47-jährige Philipp, Oberhaupt einer kleinen russisch-orthodoxen Gemeinde, einer Zweigstelle des Gottesmutter-Klosters Raifa. Seine Leibesfülle kann auch das lange schwarze Gewand nicht verbergen, das an seinem zwei Meter großen Körper nur auf den ersten Blick streng wirkt. Ein Blick in das Gesicht des Bärtigen genügt, um zu merken: für Verkrampfungen gibt es auch hier keinen Anlass. Und die Strenge religiöser Interpretation fehlt völlig, wenn er etwa sagt: "Ein Kopftuch macht jede Frau schöner."
Sein breiter Holzstuhl, einem Thron ähnlich, dominiert von einem Podest aus den Gemeinderaum der Kirche. Unweit des Kasaner Hauptbahnhofs gelegen, versteckt sich die Kirche hinter einer kleinen Pforte aus rotem Backstein, in einem Garten mit Teich und gepflegten aber zugleich unsortierten Blumenbeten.
Doch die Idylle trügt auch, denn die Probleme der Stadt machen vor der Backsteinpforte nicht Halt. Genausowenig wie Philipp über den Menschen thronen möchte, die sich in unregelmäßigen Abständen im Gemeinderaum einfinden. Abheben möchte er sich auch nicht gegenüber anderen Religionen: Denn vor allem in sozialen Fragen ähnelten sich die Religionen doch sehr, in ihrer Ablehnung von Drogenkonsum und Gewalt zum Beispiel. Gemeinsamkeiten, die sich auch in gemeinsamem Handeln ausdrücken. Zusammen mit Muslimen arbeitet seine Gemeinde gerade an einem Projekt mit dem Titel "Gesunde Generation", das sich um jugendliche Obdachlose kümmern soll.
Die sozialen Probleme des Landes entladen sich hier nicht in Konflikten entlang religöser Grenzen. Im Gegenteil: Im Miteinander der Religionen entschärfen sich alltägliche Notlagen. Philipp, der Abt, kann es auch heute von seinem Thron aus gut beobachten. "Unter ihm" zieht sich ein langer Esstisch quer durch den Raum, gedeckt mit eingelegtem Weißkohl, Roter Beete und anderen Speisen, die einen süßsäuerlichen Duft verströmen. Menschen, die für die Gemeinde arbeiten, Kinder, die kein Zuhause haben - für sie steht das Essen hier immer bereit, egal, ob er ein Tatare, sie eine Russin oder das Mädchen eine Tschuwaschin ist.
Während sie alle essen, erfüllt plötzlich Marschmusik den Raum. Es ist das Mobiltelefon von Philipp. "Ich mag deutsche Marschmusik", sagt er, und dass er sie extra für dieses Treffen auf sein Handy geladen hätte. Und noch während er ausgiebig von seiner Musikleidenschaft berichtet, sich über einen 70er-Jahre-Hit der Popgruppe Dschingis Khan ("Moskau ist ne schöne Stadt...") kaputtlacht, ertönt sein Handy erneut, diesmal mir seinem normalen Klingelton "Smoke on the Water" von Deep Purple. Er wimmelt den Anrufer ab und wird plötzlich ernst: "Jeder Mensch braucht einen Glauben", sagt er. Ohne ihn würden die Menschen eine innere Leere spüren, davon ist er überzeugt. Und schon ist da wieder diese Unverkrampftheit, die seine Ausein-andersetzung mit den menschlichen Existenzfragen bestimmt. Die Kirche könne den Menschen zwar Ratschläge geben. Aber: "Sie sollte nicht zu viel Macht haben, sonst haben wir schnell wieder Zustände wie im Mittelalter," sagt der Abt mit dem großen Leibesvolumen und dem großen Herzen.
Ein Herzschlag mit einem leicht anderen Rhythmus, pocht in einem anderen Viertel der Stadt. Almaz kommt mit schwungvollem Schritt durch den hohen lichtdurchfluteten Raum der kleinen hölzernen Moschee, die inmitten der Plattenbauten etwas verloren wirkt. Almaz ist gerade einmal 30 Jahre alt: groß, schlank, er trägt Cordhose und Leinenhemd, ist frisch rasiert. Alles an ihm wirkt irgendwie jugendlich-frisch. Hätte er nicht die für Muslime typische Kopfbedeckung, würde man ihn nicht mit den Imamen in Verbindung bringen, die das Bild dieser Berufsgruppe seit dem 11. September 2001 in den Medien dominieren.
Aber ähnlich wie jenen fehlt es auch Almaz nicht an dem nötigen Elan, wenn es darum geht, seinen Glauben zu erklären. Während er spricht, kommen ein paar Jugendliche herein, ziehen ihre Schuhe aus und lassen sich in Jeans, Socken und T-Shirt zum Beten nieder. "Es kommen vor allem Jugendliche zum Beten, und manchmal kommen sie auch einfach, um eine Tasse Tee mit mir zu trinken", sagt Almaz. Die Gläubigen kämen auch mit ihren Problemen, zum Beispiel in der Ehe oder der Familie, zu ihm und dann sei er für sie wohl so etwas wie ein Psychologe.
Im Unterschied zu religiösen Fanatikern hält er eine Ehe zwischen einem Muslim und einer Christin nicht für ausgeschlossen. Schwierig könne es aber dennoch werden: "Anfangs ist ja immer alles ganz einfach, da ist man verliebt", sagt Almaz, und dass man dann erstmal nur die Liebe sehe, die Probleme erst später kämen, wenn die Kinder da sind, die sich für einen Glauben entscheiden müssten; wenn Fragen auftauchten wie: Wo geht man zum Gebet hin? Welche Musik hört man oder wen holt man, wenn eine Beerdigung ansteht?
Doch neben der Bewältigung von Alltagsproblemen geht es Almaz auch um die Ebene, die über allem liegt: "Das Ziel des Islam ist es, die Menschen auf den guten Weg zu bringen", sagt er. Was das bedeutet? Mitmenschen zu achten; keine Gewalttaten zu verüben; über das nachzudenken, was man tut, zu lernen, zu studieren, egal was, ein Leben lang.
Doch der Herzschlag in diesem Viertel Kasans klingt nicht nur anders, sondern auch ähnlich wie in der kleinen russisch-orthodoxen Gemeinde ein paar Kilometer entfernt. Auch der junge Imam bekräftigt, dass es gar nicht so viele Unterschiede gebe zwischen den Christen und den Muslimen, vor allem in sozialen Fragen. Für die friedliche Koexistenz ist das gemeinsame Projekt "Gesunde Generation" nur ein Ausdruck. Auf die Frage, was Tatarstan von anderen Orten auf der Welt unterscheide, schweigt er einen Moment. "Ich bin hier geboren, ich kenne es nicht anders", sagt er dann.
Toleranz und Vielfalt hat hier Tradition, doch mit dem Zerfall der Sowjetunion erfuhr das friedliche Miteinander eine Zäsur. Radikale Nationalisten waren als opportunes Instrument im Streit um die Souveränität der Republik ins Feld geführt worden. Aus den Rebellen wurden friedfertigere Vertreter des Wunsches nach Freiheit. Mintimer Schaimijew, seit 1991 Präsident der Republik Tatarstan, hat das seinige dazu beigetragen. Der geschickte Politiker und Taktierer befriedete aufgewühlte tatarische Gemüter. Er schaffte Raum für die zu Sowjetzeiten immer wieder unterdrückten Bedürfnisse der Tataren, die eigene Kultur, Sprache und Religion zu pflegen. Eine Tatarische Akademie wurde eingerichtet; tatarische Zeitschriften, Bücher, Radio- und Fernsehsender wurden für jeden verfügbar.
Die Identität der Menschen in Tatarstan gleicht einem im Wachstum befindlichen, zarten Pflänzchen - das erste frische Grün, zwischen den Rissen im Beton auf einer zu Sowjetzeiten planierten Wiese. "Tataren und Russen streben gemeinsam nach mehr Autonomie", sagt Damir Iskhakov, Ethnologe und Historiker an der Kasaner Universität. Was Politik angeht, darüber möchte die Republik selbst entscheiden und darüber werde mit Moskau gesprochen. Tatarstan entwickle sich, suche seinen Platz in der Welt. "Wir alle möchten uns vom Sowjetmenschen zum modernen Menschen entwickeln, wir möchten europäisch und modern sein", sagt er. So wie Philipp, der Deep Purple hört, und so wie Almaz, für den auch interreligiöse Ehen vorstellbar sind.
Damir Iskhakovs Wünsche für die Zukunft seines Landes sind schnell formuliert, es sei am besten, wenn sich Tatarstan - gemeinsam mit der Russischen Föderation -, Europa anschlösse, "dann wären wir zusammen eine Europäische Union", sagt er, und seine Stimme klingt, als schwelge er in Träumen vom Paradies, von einem in dem Freiheit und Toleranz groß geschrieben werden - auf Russisch, auf Tatarisch, in kyrillischen Buchstaben und in lateinischer Schrift, gesungen als Choral oder intoniert wie ein Song von Nirvana.