Landflucht
Die Metropolen boomen, die ländlichen Regionen fallen zurück. Eine Analyse
Wer Omsk per Flugzeug erreicht, betritt die Stadt durch ein schmiedeeisernes Tor. Dem sibirischen Flughafen fehlt eine Ankunftshalle, doch zumindest das Abflugterminal wird gerade aufwendig saniert. Die Millionenstadt rüstet sich für die Zukunft, doch ihr Schicksal steht auf der Kippe. In Russland, dem größten Land der Erde, wächst die Kluft zwischen boomenden Metropolen wie Moskau, St. Petersburg, Wolgograd und dem restlichen Land. In Zeiten von Demografie-Notstand wegen schrumpfender Bevölkerung und Binnenmigration könnten ganze Regionen den Aufschwung verpassen, weil ihnen schlicht die Arbeitskräfte dazu fehlen. Die ländlichen Regionen um die Regionalzentren herum haben schon längst den Anschluss verloren.
"Die Unterschiede zwischen Zentren und ländlichen Regionen wachsen", sagt Natalja Subarewitsch vom Unabhängigen Institut für Sozialpolitik in Moskau. Vom Wirtschaftswachstum in Höhe von 8,1 Prozent im vergangenen Jahr profitierten vor allem Großstädte, Regionen mit starker Industrietradition, küstennahe Gebiete und Städte wie Chanty-Mansijsk, die von der Rohstoffförderung leben. Statistische Daten über einzelne Regionen seien wegen des Übergewichts der Hauptstädte in Russland genauso aussagekräftig wie die Messung der "mittleren Temperatur in einem Krankenhaus", sagt Subarewitsch.
Doch in Russland haben die krassen Unterschiede zwischen Stadt und Land Tradition. Schon zu Sowjetzeiten wurden viele Dörfer im Zuge der Urbanisierung entvölkert. Dieser Trend setzt sich bis heute fort. So ist Sibirien die große Herausforderung russischer Demografie-, Migrations- und Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert. In der westsibirischen Stadt Chanty-Mansijsk sind mit den Yukos-Milliarden des früheren Ölmagnaten Michail Chodorkowski Straßen, Krankenhäuser und die marode Wohnsubstanz aufwendig saniert worden. Die 67.000-Einwohner-Stadt ist dank der Ölindustrie eine der wohlhabendsten Russlands. In den Dörfern drumherum herrscht dagegen Stillstand.
"Die jungen Leute gehen alle weg", erzählt Lena, die per Schiff aus Chanty-Mansijsk in ihr Dorf Lugowskoje am Ob fährt. Das alte Sägewerk hat längst dicht gemacht. Das Gebäude am Ortseingang ist eine Ruine. "Nur die Alten bleiben zurück", sagt die etwa 40-Jährige, die in Chanty-Mansijsk in einem Hotel als Putzfrau arbeitet. Irgendwo auf ihrer Fahrt den Irtysch- und später den Ob-Fluss hinunter scheint sie die Grenze zwischen der Ersten und der Dritten Welt zu passieren. "Diese Kontraste sind eigentlich typisch für Entwicklungsländer", sagt der Politologe Nikolai Petrow vom Moskauer Carnegie-Zentrum.
Die Hauptstadt Moskau hat sich unterdessen vom "Schaufenster des Sozialismus" zu einer der teuersten Städte der Welt gewandelt. 2006 erwirtschaftete Moskau nach Angaben des russischen Statistikamtes knapp ein Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts. Die Metropole ist unangefochtenes Finanz-, Wirtschafts- und Kulturzentrum. Cafés, Bars, Museen und Boutiquen versprühen das Flair einer Weltstadt.
Die Millionenstadt Omsk wirkt dagegen ruhig wie Städte mittlerer Größe in Deutschland. Das Ausland ist weit - auch unter jungen Akademikern sprechen viele keine Fremdsprache. "Das Land hat nicht genügend starke Zentren, die das Territorium organisieren und die Modernisierung der Peripherie beschleunigen können", erläutert Subarewitsch. In Russland fehle eine echte Stadtbevölkerung, die sich an die Marktwirtschaft angepasst habe. "Mit nur einer wirklichen Weltstadt und einem unvollendeten System von Großstädten kann Russland an den Rand der globalisierten Welt gedrängt werden", warnt der Moskauer Geograf Leonid Smirnjagin.
Für die Zukunft sagt Petrow einen scharfen Konkurrenzkampf zwischen den Regionen voraus. Dabei geht es längst nicht nur um Investitionen, sondern immer mehr auch um Arbeitskräfte. "Einige Regionen werden faktisch die Grundlage ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung verlieren", warnt Petrow. Wessen Arbeitsmarkt nicht attraktiv genug ist, dem drohe im Wettbewerb um Arbeitskräfte eine komplette Niederlage "ohne Chance aufs Überleben". Die demografische Entwicklung und der daraus folgende Arbeitskräftemangel werden den Abstand zwischen Metropolen und dem übrigen, eh schon dünn besiedelten Land in den kommenden Jahren weiter vergrößern. Prognosen zufolge wird Russland in den kommenden 15 bis 20 Jahren ein Fünftel seiner arbeitsfähigen Bevölkerung verlieren. Zwar versucht die russische Regierung, mit staatlichen Programmen die Geburtenrate in die Höhe zu treiben. Doch Experten zweifeln, dass die ersten bescheidenen Erfolge, die sich derzeit abzeichnen, das Problem dauerhaft lösen können.
Zudem bereitet die Abwanderung aus Sibirien und dem Fernen Osten dem Kreml auch geopolitisch Kopfzerbrechen. Allein in Sibirien leben heute fast drei Millionen Menschen weniger als noch im Jahr 1989. Regionen wie Tschukotka an der Bering-Straße oder das Magadaner Gebiet am Ochotskischen Meer haben in der Zeit bis zu zwei Drittel ihrer Bevölkerung verloren. Damit ist ein Großteil der gezielten sowjetischen Besiedlungspolitik wieder rückgängig gemacht worden. Moskau schaut dabei argwöhnisch auf den Nachbarn China, der sich südlich der Grenze stürmisch entwickelt und dessen Bevölkerung immer stärker auch in Russland wirtschaftlich aktiv ist.
Doch beim Versuch des Kremls, die Abwanderung aus ländlichen und wirtschaftlich weniger erfolgreichen Regionen aufzuhalten, greifen die gewohnten Instrumente nicht mehr. Konnte er zu Sowjetzeiten Menschen noch mit Gehaltszuschlägen ins kalte Sibirien locken, ist es heute schier unmöglich, das Lohnniveau Moskaus oder Nischni Nowgorods zu überbieten. "Man muss darüber nachdenken, wie man vor Ort solche Lebensumstände schaffen kann, dass die Menschen nicht wegziehen wollen", sagt Petrow. Dabei ist in den sibirischen Weiten die nächste Großstadt mit Theatern oder modernen Einkaufszentren oft nur mit dem Flugzeug zu erreichen.
Ein Versuch waren die "Nationalen Projekte", bei denen Präsident Dmitri Medwedew vor seiner Wahl Milliarden Rubel für Infrastruktur, Wohnungsbau, Gesundheitsversorgung und Landwirtschaft ausgeben durfte. Doch die investierten Gelder hätten mehr dazu gedient, die Popularitätswerte Medwedews anzuheben als den Lebensstandard der Bevölkerung, unken Kritiker. Jegliche Versuche, die Entwicklung des Landes mutwillig von oben anzupeitschen, könnten nicht effizient sein, solange die "kolossalen Unzulänglichkeiten des russischen Verwaltungsapparats" nicht behoben seien, urteilt Petrow.
Die Abwanderung aus ländlichen Regionen könnte auch die Grundlage für erfolgreiche Landwirtschaft, die letzte Hoffnung für viele Landstriche in Russland, zerstören. Mit Milliardeninvestitionen will der Kreml den Agrarsektor wieder in Schwung bringen. Verwahrloste Kolchosen sollen der Vergangenheit angehören. Die hohen Weltmarktpreise für Lebensmittel scheinen Moskau dabei in die Hände zu spielen. "Das verbessert die Perspektive für die Entwicklung des Landwirtschaftssektor", sagt Olga Najdjonowa von der Alfa-Bank in Moskau, sie sieht dies aber als "sehr langfristigen Prozess". Es sei sehr schwierig, die in Scharen in die Städte abgewanderte Landbevölkerung wieder zurückzuholen, warnt dagegen der Agrarexperte Alexander Maximow. "Dazu braucht man neben guten Löhnen auch moderne Wohnungen und soziale Einrichtungen", sagt der Direktor des staatlichen russischen Wissenschaftszentrums "Agroecoprognos".
Die Migrationsbewegungen laufen in Russland heute auf zwei Ebenen ab: Landesweit ziehen die Menschen aus den wirtschaftlich schwächeren Regionen in die Metropolen, innerhalb der Regionen vom Land in die größeren Städte. "Wenn junge Leute ihren sozialen Status erhöhen wollen, versuchen sie in erster Linie in die regionalen Zentren oder nach Moskau zu migrieren", sagt Petrow. Das riesige Territorium und die starke Zentralisierung des Landes auf allen föderalen Ebenen führten dazu, dass der Umzug allzu oft die einzige Möglichkeit zum Aufstieg sei.
Der wachsende Abstand zwischen den Wachstumsregionen, zu denen auch Städte wie Wolgograd und Jekaterinburg gehören, und dem übrigen Land wirkt sich auch auf die russische Innenpolitik aus. Von den 81 russischen Regionen zahlen nur zehn bis zwölf deutlich mehr in den föderalen Haushalt ein, als sie aus Moskau bekommen. Alle übrigen hängen am Tropf des Kremls. "Das System ist aus Sicht des Zentrums sehr bequem zur Kontrolle der Regionen", sagt Petrow. Gleiches gilt auf regionaler Ebene zwischen dem Gouverneur und den einzelnen Kreisstädten. Somit verstärken die Migrationsbewegungen auch die vom früheren Präsidenten Putin errichtete "Vertikale der Macht".
Der Autor lebt in Moskau und arbeitet für deutsche Zeitungen und Magazine.