essay
Russland begreift sich wieder als Großmacht - ist aber keine. Auch seine Macht als Rohstoffpotentat verblasst bei genauerer Betrachtung. Denn das Land hängt am Tropf der Exporte und braucht Europa als Abnehmer
Mit Russland ist es wie mit dem Herrn Tur Tur. In Michael Endes Werk über die Reisen des Jim Knopf ist das anschaulich beschrieben. Nach langen Fahrten und vielen Abenteuern sind Jim und der Lokomotivführer Lukas am Ende ihrer Kräfte, als sie am Horizont eine schauerliche Gestalt entdecken, die größer scheint als die Berge ringsherum. Doch je näher sie kommen, desto kleiner wird das vermeintliche Ungeheuer. Als sie schließlich dem Scheinriesen Tur Tur gegenüberstehen, ist er sogar noch kleiner als der kleine Jim. Russland ist auch so ein Scheinriese. Je mehr man sich von dem Land entfernt, desto größer und bedrohlicher erscheint es. Je näher man ihm rückt, je genauer man hinsieht, desto kleiner wird es.
Wovor fürchten wir uns in Deutschland? Fürchten wir uns tatsächlich vor Russland, nur weil sein Präsident und sein Ministerpräsident sagen, dass ihr Land eine Großmacht sei? Reicht die bloße Erklärung aus, dass wir das auch glauben? Wir sollten uns dem Problem nüchtern nähern.
Russland ist keine Großmacht, es will nur eine Großmacht sein. Wenn Wladimir Putin und Dmitri Medwedew ein Russland proklamieren, das auf Augenhöhe mit den USA stehe, dann ist das erstens wohlfeil, zweitens ein Signal an die russische Bevölkerung, die solche Signale von ihrer Führung erwartet, und drittens falsch, weil ein Zeichen von kolossaler Selbstüberschätzung. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind 17 Jahre vergangen, und Russland als größter Erbe der UdSSR ist immer noch ein Schwellenland, bestenfalls also eine Scheinmacht. Das gilt für die Wirtschaft und für die Gesellschaft des Landes.
Russlands Wirtschaftskraft ist gerade einmal so groß wie die Frankreichs. Die in Moskau großspurig verkündeten Pläne, das größte Flächenland der Erde bis 2020 unter den fünf größten Volkswirtschaften der Welt zu platzieren, sind mit derselben Skepsis zu sehen wie damals Helmut Kohls Vision von den blühenden Landschaften in Ostdeutschland. Vielleicht lassen sich die Pläne verwirklichen, wahrscheinlich ist das aber nicht. Die Skepsis allerdings sollte einer genaueren Einschätzung des Kräfteverhältnisses dienen. Dass der russische Staat in seiner augenblicklichen Verfassung dem selbst entworfenen Bild einer Großmacht oder gar Weltmacht nicht genügen kann, ist für den Rest der Welt und insbesondere für Europa weder Grund zu Häme noch zur Selbstüberschätzung.
Das russisch-europäische Verhältnis war in den gesamten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geprägt von Fehleinschätzungen und Missverständnissen. Näher gekommen sind sich die "strategischen Partner" nicht. Sie sind im Gegenteil noch weit entfernt von einer Erneuerung ihrer Beziehungen. Die Verhandlungen über den fälligen Nachfolgevertrag des EU-Partnerschaftsabkommens mit Russland sollen jetzt anlaufen - der Ausgang ist ungewiss. Denn vor eine wirtschaftliche Verflechtung stellen beide Seiten das Misstrauen. Was hat das Partnerschaftsabkommen mit Russland seit seiner Ratifizierung im Dezember 1997 erbracht? Institutionelle Hilfe bei der Schaffung demokratischer, rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen hat Russland bereits 1999 abgelehnt. Statt dessen formulierte man eigene Positionen gegenüber der EU: wirtschaftliche Zusammenarbeit ja, Anbindung oder gar Einbindung in europäische Strukturen nein.
Das Positionspapier des russischen Außenministeriums vom Oktober 1999 ist in diesem Punkt unmissverständlich und immer noch gültig: Russland begreift sich als Großmacht und wird sich keiner supranationalen Organisation unterordnen. Zudem verbittet man sich politische Einmischung im postsowjetischen Raum. Die EU aber will weiter Reformhilfe leisten, bietet Unterstützung an und will helfen, die Zivilgesellschaft in Russland aufzubauen. Die 2005 beschlossenen "Wegkarten zur Schaffung gemeinsamer Räume" bezeichnet der Leiter der Abteilung Europäische Sicherheit am Moskauer Europa-Institut, Dmitri Danilow, zu Recht als "Inventurliste" ohne programma-tischen Wert. Das ist der Status quo in den Beziehungen zwischen der EU und Russland. Seither ist nichts Grundsätzliches mehr entschieden oder umgesetzt worden.
In Russland aber ist viel geschehen: Es gibt keine Opposition mehr im russischen Parlament. Es entstehen keine Parteien, die diesen Namen verdienen. Es gibt kein Wahlgesetz, das diesen Mangel beheben würde. Die russische Demokratie, gelenkt oder souverän, ist eine Kampagne der Politik-Design-Abteilung des Kremls. Zur gelenkten Demokratie kommt eine gelenkte Justiz. Eine neue deutsche und europäische Russland-Politik ist gefragt. Sie sollte sich nicht der Illusion hingeben, ein demokratischer Wandel in Russland sei durch möglichst enge institutionelle Verflechtung zu erreichen. Russland und die EU sind als Energieabnehmer und Lieferant zwar aufeinander angewiesen. Darüber hinaus erweisen sie sich jedoch zunehmend als Konkurrenten.
Was die deutsche Initiative einer "neuen Ostpolitik" erwirken soll, hat das Partnerschaftsabkommen in zehn Jahren nicht bewerkstelligen können. Eine militärische Kooperation zur gemeinsamen Friedenssicherung im postsowjetischen Raum ist mit der gegenwärtigen russischen Realität vollends unvereinbar. Würde Deutschland gar - wie die Russen hoffen - nationale Interessen über europäische stellen und sich die Rolle des Energieverteilers in Europa andienen lassen, befände sich die deutsche Außenpolitik auf Abwegen.
Der neue Präsident Medwedew hat eine neue europäische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen, die aus Europa als organischer Einheit aller seiner Teile, also auch Russlands, bestehen soll. Das ist eine schöne Idee. Ihre Verwirklichung aber werden wir kaum erleben. Denn zeitgleich setzt Medwedew sein Land bewusst und zielgerichtet zwischen die Stühle. Russland hat eine asiatische Entwicklungsalternative. Es kann sich zwischen der Europäischen Union und China positionieren. Und es wird genau das versuchen. Das darf man nicht aus den Augen verlieren, wenn - wie unlängst auf dem EU-Russland-Gipfel im sibirischen Chanti-Mansijsk - die neue Zusammenarbeit zwischen der EU und seinem großen Nachbarn beschworen wird. Russland kann nach Osten ausweichen. Das wird dauern, aber es ist möglich.
Bis dahin müssen wir uns nicht allzu große Sorgen machen, dass uns die Russen die Ölzufuhr kappen oder die Gasversorgung einstellen. Russland ist ein zuverlässiger Lieferant, nicht aus Wohlwollen, sondern aus Einsicht in die momentane Alternativlosigkeit. Russland braucht Europa als Abnehmer von Rohstoffen genauso wie Europa Russland als Rohstofflieferanten braucht. Wahrscheinlich braucht Russland Europa sogar mehr, solange es nicht ausreichend Transportwege für Erdgas und Öl nach Osten gibt und es sein Misstrauen gegenüber dem Nachbarn und Konkurrenten China nicht ausgeräumt sieht. Dass Russland seine Rohstoffe als Waffe für die Durchsetzung außenpolitischer Interessen einsetzen kann, bleibt eine Option. Sie sollte uns aber nicht kopflos ma- chen.
Die Autoren arbeiten als Redakteure für die "Berliner Zeitung".