vielvölkerstaat
Eine gesamtstaatliche Minderheitenpolitik gibt es in Russland nicht
Straßenschlachten, brennende Geschäfte, mehrere Tote - eine erschreckende Bilanz der pogromähnlichen Ausschreitungen, zu denen es in der nordwest-russischen Stadt Kondopoga im September 2006 kam. Das ist kein Einzelfall: Immer wieder gab es in den letzten Jahren gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Russen und Kaukasiern. Diese sind nur der augenscheinlichste Ausdruck eines lange gärenden Konflikts zwischen den beiden Volksgruppen, der nicht erst seit den Tschetschenien-Kriegen existiert. Krieg und Terrorismus haben jedoch seitdem alte Ressentiments und Ängste wiederbelebt.
Angeheizt werden sie durch wirtschaftliche und religiöse Unterschiede. So wird tschetschenischen Kriegsflüchtlingen und anderen Kaukasiern landläufig unterstellt, in mafiaähnlicher Manier die russischen Märkte an sich gerissen zu haben und den Russen den Zugang zu verwehren. Diese Stimmung nutzen gerade rechtsextreme Organisationen geschickt, um die russische Bevölkerung etwa mit Flugblattkampagnen zu mobilisieren: Kaukasier werden darin als "Terroristen" und "Kriminelle" dargestellt. Offenbar mit Erfolg: Laut einer aktuellen Studie des Meinungsforschungsinstituts WZIOM machen 68 Prozent der Russen die muslimischen Einwanderer aus dem Kaukasus für die Zunahme der Konflikte verantwortlich, in Moskau sind es sogar 75 Prozent.
Der russische Historiker Alexej Malaschenko konstatierte unlängst eine von den Medien geschürte Islamophobie: "Früher waren Muslime sowjetische Bürger, heute sind sie zu Fremden im eigenen Land geworden."
"Es ist die Angst, ins Hintertreffen zu geraten", so erklärt Klaus Segbers, Professor am Osteuropa-Institut der Freien Universität in Berlin, das Phänomen des wachsenden Rassismus. Angesichts der seit Jahren sinkenden russischen Geburtenrate seien manche Sorgen auch nicht völlig unbegründet: "In einigen Gebieten, etwa im Nordkaukasus und in der Wolga-Region, entwickeln sich bereits Parallelstrukturen", so der Politikwissenschaftler. Dies müsse beobachtet werden. Es sei schließlich nicht unerheblich, wenn informelle Schulen entstünden oder die Rechtsprechung nach der Scharia erfolge.
Der russisch-kaukasische Konflikt wirft ein Schlaglicht auf das Zusammenleben im Vielvölkerstaat Russland. Der größte Flächenstaat der Erde ist nämlich ein Land mit vielen ethnischen Minderheiten: Neben den Russen, die etwa 79,9 Prozent der rund 142 Millionen Einwohner ausmachen, leben dort fast 100 verschiedene Volksgruppen. Zwar versteht sich der russische Staat offiziell als "multinationales Volk der Russischen Föderation", doch verhindert dies keinesfalls Spannungen zwischen russischer Majorität und einzelnen Minderheiten. Nicht alle Volksgruppen, die so genannten Titularnationen, verfügen über ein eigenes Territorium, auch wenn die Schaffung der Autonomen Republiken und Regionen sich durchaus an ethnischen Gesichtspunkten orientierte. "Der Umgang mit Minderheiten differiert von Region zu Region", betont Segbers. "Wie konfliktfrei er ist, hängt vor allem davon ab, wie stark ein Gebiet ethnisch und kulturell durchmischt ist." Zwar gebe es durchaus föderale Rahmengesetze, die die Sprachen der Volksgruppen und ihre kulturelle Autonomie schützen sollen, doch die einzelnen Regionen und Autonomen Republiken verfügten über eine gehörige "Manövrierfähigkeit", so der Berliner Professor.
Zu sowjetischen Zeiten verfolgte die Regierung eine doppelte Strategie im Umgang mit Minderheiten: "Es gab Kontrollmechanismen genauso wie Anreize zur Integration." Heute fehle aber eine gesamtstaatliche Minderheitenpolitik, so Segbers. Möglicherweise ein großes Manko, denn die russische Regierung steht vor der Herausforderung, Globalisierung und demografischem Wandel zu begegnen, das Land wirtschaftlich zu öffnen und somit auch Einwanderung zuzulassen. "Die Politik muss aber die Ba- lance finden zwischen Reformen und Kompensationsgesten, die die Gemüter besänftigen", so Segbers. Vorerst reagierte sie restriktiv.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.