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Sie hat ihre alte Vormachtstellung wieder und dient zudem als Kitt der Gesellschaft
Das sichtbarste Zeichen für das neue Selbstbewusstsein der russisch-orthodoxen Kirche ist der 8. Juli 2008. Seit diesem Tag hat Russland einen neuen Feiertag. Grund dafür ist der auch in Russland immer populärer werdende Valentinstag. Der aus dem Westen importierte Feiertag war der orthodoxen Kirche ein Dorn im Auge. Daher rief sie einfach eine russische Version ins Leben, die nicht auf westliche Einflüsse, sondern auf den Todestag eines russischen Heiligenpaares zurückgeht.
Die Auferstehung der russisch-orthodoxen Kirche ist noch nicht lange her: Stalin ließ Bischöfe und Priester verfolgen und verdrängte die orthodoxe Kirche aus dem öffentlichen Leben. Nach dem Zweiten Weltkrieg duldeten die mächtigen Parteikader zwar die Aktivitäten der Kirche - aber nur in eng abgesteckten Grenzen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die wiedergewonnene Religionsfreiheit lösten Anfang der 1990er-Jahre einen religiösen Boom aus. Russland entwickelte sich zur Spielwiese für religiöse Gruppen und undurchsichtige Sekten. Erst ein schärferes Religionsgesetz sorgte 1997 dafür, dass die russische Orthodoxie ihre alte Vormachtstellung einnehmen konnte.
Heute zählt das Land wieder 27.942 orthodoxe Gemeinden. Im Jahr 1986 waren es gerade einmal 6.742. Zweckentfremdete Sakralbauten, die zu sowjetischen Zeiten als Schwimmbäder oder Lagerhallen dienten, werden wieder als Kirchen und Klöster genutzt. Landesweit flimmern Festgottesdienste über die Fernseher.
Für Thomas Bremer, Professor am Ökumenischen Institut der Universität Münster, steht die Renaissance des Glaubens in engem Zusammenhang mit dem Niedergang des Kommunismus. "Nachdem sich die Sowjetunion aufgelöst hatte und der Kommunismus als Ideologie wegbrach, entstand ein geistiges Vakuum", sagt Bremer. Diesen Freiraum habe die orthodoxe Kirche mit ihrem spirituellen Angebot gefüllt. Heute sei sie der Kitt, der die russische Gesellschaft zusammenhalte. Die meisten Russen vertrauten der Kirche und sähen in ihr eine Institution, die wichtige Werte vermittelt.
Bis heute hält die orthodoxe Kirche an einem strengen Moralkodex fest: Vorehelicher Sex und Abtreibung lehnt sie kategorisch ab. In einem "Spiegel"-Interview Anfang des Jahres bezeichnete der Außenminister der russisch-orthodoxen Kirche Homosexualität als "Sünde" und Gay-Paraden als "eine aufdringliche Zurschaustellung von Unzucht". In anderen Fragen wiederum zeigt sich die orthodoxe Kirche liberal: Es gibt kein Zölibat, Empfängnisverhütung wird akzeptiert, und nach einer Ehescheidung ist eine zweite kirchliche Trauung möglich.
Auch wegen dieser Ambivalenzen wirkt die orthodoxe Kirche auf westliche Betrachter meist fremd und geheimnisvoll. Anders als etwa die evangelische Kirche, die sich stark über die Theologie definiert, baut die orthodoxe Kirche mehr auf Spiritualität. Die oft stundenlangen, weihrauchgetränkten Gottesdienste haben einen sinnlichen, fast meditativen Charakter. In den Kirchen gibt es keine Orgeln, auch Sitze sucht man vergeblich. Nach orthodoxem Glauben ist es nur stehend möglich, vor Gott zu treten, und ausschließlich die menschliche Stimme ist geeignet, Gott zu preisen.
"Für viele Russen ist der Glaube heute wieder ein wichtiges Identifikationsmerkmal, das sie unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder ihrem Einkommen verbindet", sagt Thomas Bremer. Die Kirche stifte ein nationales Gemeinschaftsgefühl. Wie einst im zaristischen Russland gilt die Orthodoxie als "Staatsreligion", gehen orthodoxer Glaube und nationale Identität Hand in Hand. Die einfache Formel lautet: Orthodox ist russisch und russisch ist orthodox. Zwar sieht die Verfassung die Trennung von Staat und Kirche vor, doch in der Praxis pflegen Kirche und Staat eine symbiotische Beziehung - mit Vorteilen für beide Seiten. "Für die Kirche bildet der Staat einen Raum, in dem sie geschützt und privilegiert wirken kann", meint Bremer. "Sie kann neue Gemeinden gründen, Kirchen bauen und Bücher publizieren - Aktivitäten, die ihr in der Sowjetunion verboten waren." Der Staat hingegen schätze die Kirche als Garant für den Zusammenhalt der Gesellschaft, deren Einfluss sich aber nicht gegen die Regierung richte.
Um die orthodoxe Antwort auf den Valentinstag bekannt zu machen, gingen am 8. Juli Feiern in Moskau, Sankt Petersburg und Wladiwostok über die Bühne. Allein in der Hauptstadt fanden 40 Veranstaltungen statt. Geplant wurden die Festivitäten von einem eigens eingerichteten Organisationskomitee. Die Leitung übernahm Swetlana Medwedewa, Russlands neue First Lady. Auch das sagt einiges über das besondere Verhältnis von Staat und Kirche in Russland aus.
Der Autor ist Volontär der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn.